Bestimmte Nervenzellen, die normalerweise den Appetit drosseln, können, beeinflusst durch Cannabinoide, die gegenteilige Wirkung entfalten und so Heißhunger auslösen. Der neu entdeckte Mechanismus könnte als möglicher Therapieansatz bei Essstörungen dienen.
Cannabinoide kommen in der Hanfpflanze vor und sind biochemische Botenstoffe, die Reize zwischen Nervenzellen weitergeben. Damit ihre Nachricht in der reizempfangenden Zelle gelesen werden kann, hat sie eine Art Aufnahmeeinrichtung, die sogenannten Cannabinoid-Rezeptoren, erläutert der Leipziger Neuroanatom Marco Koch, der seit vielen Jahren an den Effekten von Cannabinoiden im Gehirn arbeitet. “Es ist ja seit längerem bekannt, dass Konsumenten von Marihuana Heißhunger entwickeln. Der Effekt tritt sogar dann auf, wenn ihr Magen gut gefüllt ist. Mit dem Cannabinoid 1-Rezeptor ist der für die Appetit-stimulierende Wirkung verantwortliche Rezeptor bekannt. Noch nicht ganz klar ist jedoch, welche Mechanismen für den Heißhunger tatsächlich verantwortlich sind und das wird unter Forschern nach wie vor kontrovers diskutiert.“
Im Hypothalamus-Areal des Gehirns gibt es eine Gruppe von spezialisierten Nervenzellen, die nach einer Mahlzeit aktiv wird und Sättigungsgefühl auslöst. Dabei handelt es sich um sogenannte Proopiomelancortin-haltige Nervenzellen oder kurz POMC-Neurone. Sie drosseln den Appetit, indem sie ein bestimmtes Hormon freisetzen. Es sorgt dafür, dass sich ein Organismus satt fühlt. „Da komplett gesättigte Mäuse nach einer Injektion von Cannabinoiden weiter fraßen, gingen wir zunächst selbstverständlich davon aus, dass dadurch die Appetit-zügelnden POMC-Neurone ausgeschaltet würden“, beschreibt Koch die Erwartungshaltung der Wissenschaftler vor den Untersuchungen. Überraschenderweise stellten die Forscher jedoch fest, dass die POMC-Neurone keineswegs ausgeschaltet, sondern ganz im Gegenteil tatsächlich aktiviert wurden. Und noch überraschender veränderten sie ihre Bestimmung und feuerten den Hunger sogar noch an. Die Cannabinoide polten die POMC-Neurone um und brachten sie dazu, ein hungrig machendes Hormon als Botenstoff freizusetzen. Dieses „Hunger-Hormon“, das Beta-Endorphin, veranlasste die satten Mäuse weiter zu fressen. „Zur Gegenkontrolle haben wir die Rezeptoren für das Beta-Endorphin blockiert, bevor wir die Cannabinoide injizierten. Und tatsächlich, dann haben die Mäuse nicht mehr gefressen.“
Aufgrund der dramatisch ansteigenden Zahl von Menschen mit starkem Übergewicht hat sich eine internationale Wissenschaftlerkooperation besonders für das Essverhalten interessiert. „Möglicherweise können unsere Ergebnisse beitragen, Therapien zur Behandlung von Essstörungen zu entwickeln“, weist Koch auf eine mögliche medizinische Anwendung hin. Originalpublikation: Hypothalamic POMC neurons promote cannabinoid-induced feeding Marco Kochet al.; Nature, doi: 10.1038/nature14260; 2015