Der Alarm kam kurz nach Schichtbeginn, gegen sieben Uhr morgens. Gemeldet waren Thoraxschmerzen bei einer älteren Dame, wir rechnen mit einem Herzinfarkt – bis die Frau ihr eisernes Schweigen bricht.
Sie lebte in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Die Szene war idyllisch, die Sonne ging gerade auf, ihr kleines, hübsches Gärtchen war in Morgentau gebadet, die Staßen waren leer und ruhig.
Der RTW war schon da, und Sandra, eine Rettungssanitäterin, trat gerade aus der Haustür, als wir ausstiegen.
„Ich hab euch schon kommen gehört, eigentlich wollten wir euch grade abbestellen. Das braucht keinen Notarzt, die Frau ist stabil und das Problem scheint auch nicht das Herz zu sein. Aber Julia schreibt grade das EKG.“
Weil wir sowieso schon da sind, werfe ich einen Blick auf die Situation. Die Patientin sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa. Die Wohnung ist sauber und hübsch eingerichtet, eine für mich klassische „ältere Damen-Wohnung“ mit viel Teppich, kleinen Dekosachen in jeder Ecke, Bildern und Fotos an den Wänden. Wie aus dem Bilderbuch. Sie trägt einen dunkelrosa Morgenmantel, über die Beine hat sie zusätzlich eine sehr wahrscheinlich selbstgestrickte Decke gelegt. Gepflegt sieht sie aus, trotz der frühen Morgenstunden sind ihre Haare schön gekämmt. Sie sieht in Anbetracht der Uhrzeit deutlich wacher aus, als ich mich fühle.
Julia, die andere Rettungssanitäterin, kniet vor ihr. Das EKG ist schon angebracht, ein erster Streifen wird gerade ausgedruckt, Blutdruck wird gemessen. Das EKG ist unauffällig, der Puls eher schnell, aber noch im Normbereich, Blutdruck und Sauerstoffsättigung normal. Ich stelle mich bei der Patientin vor und begrüße Julia, die mir sogleich einen kurzen Bericht liefert.
Frau Winter hat Schmerzen im Brustbereich links. So, wie sie es beschreibt, ist es aber tatsächlich die Brust, die weh tut, also eher nichts Kardiales. Auf Nachfrage meinerseits sagt Frau Winter: „Da ist halt diese Wunde … Die hab ich schon seit Monaten und die will einfach nicht abheilen. Die tut mir weh.“
Wunden, die nicht heilen, versprechen schon mal nichts Gutes. Und Wunden an der Brust, die nicht heilen, lassen bei mir sämtliche Alarmglocken läuten. Auch bei Julia, die mir einen bedeutungsvollen Blick zuwirft.
„Hast du den Arm schon gesehen?“, fragt sie mich. Tatsächlich ist er mir auch schon aufgefallen – er ist geschwollen, teigig, also ödematös. So was kommt auch nicht von heute auf morgen, und Frau Winter bestätigt, dass der Arm schon länger so sei.
Genau wie ich, will Julia jetzt gerne etwas mehr über diese Wunde erfahren. Frau Winter berichtet, die Wunde bestehe schon seit langem, sie heile einfach nicht ab. Sie versorge sie selber mit Gazebinden aus der Apotheke. Wenn sie die Gaze entferne, dann blute es manchmal recht stark, meint sie, „da läuft das Blut nur so runter“.
Ein paar Diagnosen kommen mir in den Sinn, eine davon drängt sich vor: Brustkrebs. Wenn jemand eine größere Operation wegen Brustkrebs hatte, bei der auch die Lymphknoten entfernt wurden, kann es zu einer Stauung der Lymphflüssigkeit in diesem Arm kommen, was dann den Arm anschwellen lässt. Doch Frau Winter hatte noch nie eine Operation, und Brustkrebs schon gar nicht. Sie war bisher immer gesund, bis auf die Hüfte, die ihr Probleme macht, deswegen geht sie regelmäßig zum Orthopäden. Beim Hausarzt war sie ewig nicht mehr.
„Können Sie uns das mal zeigen?“, fragt Julia. Die Anspannung ist fast greifbar bei uns. Wir haben beide ein schrecklich schlechtes Gefühl, eine Ahnung, was kommen wird.
Frau Winter öffnet den Morgenmantel und zieht mit Julias Hilfe das weiße Nachthemd hoch. Sie trägt einen sauberen cremefarbenen BH, noch sieht man nichts von einer Wunde. Julia zieht den Stoff des BHs nach unten.
Wir finden die angekündigte Gaze, schön säuberlich gefaltet. Als Julia sie ein bisschen wegzupft, präsentiert sich eine großflächige Wunde, die sich von links der Brustwarze flächenförmig bis zur Achsel ausbreitet. Ein bisschen Blut ist da, viel gelbliche Flüssigkeit, der Wundgrund ist teil rosig, teils gelblich, teils schwarz. Ich stehe über einen Meter entfernt, aber Julia verzieht für eine Millisekunde das Gesicht, als würde etwas unangenehm riechen. Nach einer knappen Sekunde der Inspektion und einem weiteren Blick an mich klappt Julia die Gaze vorsichtig wieder zurück, rückt den BH grade, zieht das Unterhemd nach unten.
Ich schlucke leer.
Mag sein, dass Frau Winter noch nie Brustkrebs diagnostiziert bekommen hat, aber jetzt hat sie ihn sehr wahrscheinlich. Schon seit längerem und er ist fortgeschritten. Wahrscheinlich wächst er ihr schon in die Achsel, ist metastasiert, deswegen hat sie auch die Lymphstauung im Arm.
Meist kommt es nicht soweit. Meist gehen Patientinnen viel früher zur Abklärung, oder die Gynäkologin findet was bei der Routineuntersuchung, lange bevor sich der Tumor so durch das Gewebe frisst. Um die Erkrankung so weit fortschreiten zu lassen, braucht es eine Art Teufelskreis: Je länger die Patientinnen warten, desto unangenehmer ist es ihnen, sie schämen sich und gehen erst recht nicht zum Arzt, der Tumor breitet sich ungehemmt aus. So lange es nicht diagnostiziert ist, kann man es besser verdrängen, so lange ist es nicht so schlimm.
Ich will mir nicht vorstellen, wie sie sich die letzten Wochen und Monate gefühlt hat, wie lange ihre Leidenszeit schon ist. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit Schmerzen und Angst.
Julia packt ihre sanfteste Stimme aus.
„Frau Winter, so eine Wunde, die so lange besteht, das ist nicht normal. Ich möchte Sie wirklich unbedingt ins Krankenhaus mitnehmen, damit sich das dort eine Gynäkologin anschaut. Wären Sie damit einverstanden? Es ist mir wirklich, wirklich wichtig.“
„Na gut, wenn Sie meinen“, antwortet Frau Winter, nach wie vor lächelnd, geduldig, fügsam. Julia hilft ihr, die wichtigsten Dinge einzupacken – Portemonnaie, Krankenkassenkarte, etwas zu Lesen, etwas zum Anziehen.
Für mich gibt es hier nichts mehr zu tun, und ich verabschiede mich. Mein Schichtleiter, der das Ganze mit Sandra zusammen aus etwas Entfernung mitverfolgt hat, meldet uns bei der Leitstelle als verfügbar für den nächsten Einsatz.
Ich sinke in den Beifahrersitz des NEF. Wir treten den Rückweg an, in die schönste Morgensonne gebadet, schweigend.
Meine Gedanken bleiben an diesem Tag bei Frau Winter und ich werde auch die nächsten Wochen und Monate häufiger an sie denken.
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