Eine Patientin wird 130 Tage lang in einer Klinik mit Antibiotika behandelt. Was die Ärzte nicht wissen: Sie züchten gerade einen ganz besonderen Enterococcus-Stamm in ihr heran. Spoiler: Es geht nicht um eine klassische Resistenz.
Als Great Fail of Medicine bezeichnet der US-Mediziner John Ross auf Twitter einen erstaunlichen Fallbericht aus der Infektiologie. Das Paradoxe: Er handelt von einem Bakterium, das nicht mehr ohne Antibiotika leben kann. Wie ist das möglich? Der Fall, der sich schon vor 30 Jahren zutrug, dient auch heute noch als gutes Beispiel dafür, wie die Antibiotika-Therapie auf keinen Fall aussehen sollte.
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Im Jahr 1992 wird eine 46-jährige Frau mit akuter Cholecystitis, Cholangitis und plötzlich auftretender Pankreatitis in das Universitätskrankenhaus in Philadelphia, USA, eingeliefert. In der Klinik wird die Patientin mehrere Monate bleiben, denn sie entwickelt unter anderem eine lebensbedrohliche Sepsis und muss zwischenzeitlich invasiv beatmet werden.
Während ihrer Zeit in der Klinik erhält sie verschiedene Antibiotika, darunter Vancomycin, Imipenem und Gentamicin. Rund 2 Monate nach der Hospitalisierung kultivieren die Ärzte aus dem Urin der Patientin das Bakterium Enteroccocus faecalis. Offenbar ist der Keim resistent gegen Vancomycin, weswegen die intravenöse Behandlung mit diesem Antibiotikum abgebrochen wird. Nur wenig später erhält die Patientin aber – aufgrund einer Allergie gegen Ampicillin – erneut Vancomycin, diesmal in Tablettenform. Insgesamt wird die Patientin so über 130 Tage lang mit Vancomycin behandelt. Warum die Patientin so lange mit dem Antibiotikum behandelt wird, erklären die Autoren des Fallberichts nicht.
Im Labor der Klinik versuchen die Mitarbeiter derweil herauszufinden, wie man den resistenten Stamm behandeln kann. Dafür setzen sie den kultivierten Stamm verschiedenen Antibiotika aus. Doch schon die Anzucht des Keims gestaltet sich als schwierig: Die direkte Ausplattierung von Urinproben auf Nährboden war zwar noch erfolgreich. Doch sobald die kultivierten Kolonien auf weitere Nährböden übertragen wurden, gelang die Anzucht nicht mehr. Selbst auf Blutagar wuchsen nur wenige Kolonien heran – eigentlich ist das ein Nährboden, auf dem Enterokokken leicht anzuzüchten sind. Die Mediziner vermuten, dass die Bakterien auf einen Nährstoff angewiesen sind, der nur im Urin der Patientin vorkommt.
Wie sich nach einigen Versuchen herausstellt, ist es das Antibiotikum Vancomycin selbst, ohne das E. faecalis nicht wachsen kann. Die Mediziner finden dann auch heraus, wie es dazu kommt: Vancomycin wirkt antibiotisch, in dem es den Aufbau der bakteriellen Zellwand stört. Bei der langen Exposition gegenüber Vancomycin wurden die Enterokokken resistent, weil sie das Dipeptid D-Alanin-D-Alanin in ihrer Zellwand in D-Alanin-D-Laktat umwandelten. Allerdings brachte das dem E. faecalis-Stamm auch einen Nachteil ein: Er hatte die Fähigkeit verloren, D-Alanin-D-Alanin zu bilden und benötigte Vancomycin, um die Produktion von D-Alanin-D-Laktat zu stimulieren.
Doch die Geschichte nimmt ein glückliches Ende. Nach endgültigem Absetzen des Antibiotikums verschwindet bei der Patientin auch die Infektion mit dem Vancomycin-abhängigen Stamm. Der eingangs erwähnte Mediziner John Ross, der den Fall auf Twitter schilderte, zieht das Fazit: „Verabreicht keine langen Antibiotika-Kuren aus unklaren Gründen!“
Bildquelle: Candace Mathers, unsplash