Das Einsetzen von Kunststoffnetzen zur Behandlung weiblicher Senkungsbeschwerden ist unter Gynäkologen heftig umstritten und in einigen Ländern sogar verboten. Die einen bewerten das Verfahren kritisch, während die anderen Potenzial in der Methode sehen.
Für eine Senkung der weiblichen Genitalien gibt es zahlreiche Ursachen, etwa Übergewicht, Bindegewebsschwäche oder mehrere Geburten. Einschränkungen, die damit eingehergehen können, wie ungewolltem Urinverlust, Druck- oder Fremdkörpergefühlen, Rückenbeschwerden oder Schmerzen beim Sex, können allerdings behandelt werden. Die S2e-Leitlinie nennt neben konservativen Verfahren wie Beckenbodentraining oder Pessartherapie unterschiedliche chirurgische Möglichkeiten. Eine davon sind künstliche Netze, sogenannte Mesh Devices. Die Methode hat sich seit Anfang des Jahrtausends vor allem in den USA durchgesetzt, während Urologen bei uns eher kritisch eingestellt sind. Hierzulande handelt es sich noch um eine neuartige Methode.Statistiken gibt es derzeit nicht, entsprechende Register sind aber in Planung. Im Jahr 2017 verklagte etwa eine Patientin ein Krankenhaus auf Schmerzensgeld und erhielt Anfang des Jahres Recht. Der Grund: unzureichende Aufklärung vor dem Einsetzen eines Netzimplantats zur Behandlung ihrer Belastungsharninkontinenz. Nach dem Eingriff folgten vier weitere OPs, zudem litt die Patientin unter Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Am 23.01.2018 wurde entschieden, dass die Klägerin 35.000 Euro Schmerzensgeld erhält.
Experten der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) warnen vor vollmundigen Versprechen. „Jede Frau, die sich wünscht, ihre Beckenbodensenkung durch eine Operation zu beseitigen, sollte sich ausführlich informieren“, sagt Professor Dr. Thomas Dimpfl. Er ist Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Kassel. Gemäß S2e-Leitlinie „Weiblicher Descensus genitalis“ profitieren vielen Patientinnen vom gezielten Training ihrer Beckenbodenmuskulatur. Stützpessare können sich zur symptomatischen Behandlung ebenfalls eignen. Alternativ nennt die Leitlinie chirurgische Eingriffe wie die vordere Scheidenplastik mit einer Erfolgsrate von 63 Prozent bei 1.000 Patientinnen. Dieser Wert variiere stark und sei auch abhängig von zusätzlich ausgeführten OPs, heißt es im Dokument. Beispielsweise kann im Zuge einer ohnehin erforderlichen Hysterektomie auch die Scheidenwand gerafft werden. „Wenn ein Arzt oder eine Ärztin mehrere Alternativen vorschlägt und die Patientin in den Entscheidungs- und Genesungsprozess mit einbindet, dann kann das ein gutes Anzeichen dafür sein, dass in dieser Klinik nicht nur eine einzige Operationsmethode beherrscht wird und dass eine für die Patientin optimale Lösung gefunden werden kann.“ Der Experte ergänzt, viele Patientinnen hätten nach einem sorgfältig durchgeführten Eingriff gute Chancen, dass die Senkung mit all ihren unerwünschten Begleiterscheinungen dauerhaft verschwinde.
Bleibt der gewünschte Erfolg aus, setzen manche Kliniken Kunststoffnetze bzw. Mesh Devices ein. „Die guten Erfolge direkt nach der Operation werden letztlich zu häufig durch Komplikationen zunichtegemacht, die erst viel später auftreten können“, weiß allerdings Professor Dr. Werner Bader, Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe am Klinikum Bielefeld. Auch die Leitlinienautoren formulieren ihre Bedenken: „Der Einsatz von synthetischen Netzen im vorderen Kompartiment verringert die anatomischen und subjektiven Deszensus-Rezidivraten, allerdings ohne positive Wirkung auf die Lebensqualität.“ Neuerliche Eingriffe aufgrund von Komplikationen oder Belastungsinkontinenz seien häufiger als bei der Scheidenplastik. Europäische Urologen sehen im Verfahren nur eine Option, sollten etablierte Techniken nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Diese Argumentation stützt sich auf mehrere Veröffentlichungen. Netze führten bei Frauen mit Descensis genitalis in den ersten Jahren nach dem Eingriff nicht zu besseren Resultaten, aber zu deutlich mehr Komplikationen. Und bei der PROSPECT-Studie fanden Wissenschaftler keinerlei Vorteile aus medizinischer oder gesundheitsökonomischer Sicht.
Es gibt aber nicht nur Kritiker der Methode. In einem Übersichtsbeitrag schreibt Dr. Andrea Lippkowski, Oberärztin an der Klinik für Urogynäkologie des Alexianer St. Hedwig-Krankenhauses: „Mit dem Einsatz vaginaler Netze wurde die Deszensuschirurgie revolutioniert. Die Rezidivrate, vor allem im vorderen Kompartiment, wurde deutlich reduziert, auch die Komplikationsraten sind verhältnismäßig gering.“ Netzerosionen oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, sogenannte Dyspareunien, seien oft konservativ therapierbar. Ihr Resümee: „Vaginale Netze sind sicher nicht die Lösung aller Beckenbodenprobleme, aber sie füllen eine relevante therapeutische Lücke und sind dann die beste Option zur operativen Therapie eines Deszensus.“ Lippkowski fordert, alle Operateure gut zu schulen. Kollegen sollten vaginaloperative und laparoskopische Erfahrungen zur Netzanwendung haben. „Bei der Neueinführung medizinischer Produkte werden bessere Kontrollen und Nachweise von Studien benötigt“, gibt Lippkowski zu bedenken. „In diesem Punkt könnte eine Anpassung an die FDA-Ansprüche sinnvoll sein.“
Mittlerweile bewerten FDA-Fachleute die Implantate als „Hochrisiko-Medizinprodukte“ und stufen sie von Klasse II auf Klasse III hoch. Ihre Einschätzung teilen Kollegen der Europäischen Arzneimittelagentur EMA. Australien und Neuseeland haben Netze ganz aus ihren OPs verbannt. „Mehr als 100.000 Frauen auf der ganzen Welt verklagten Hersteller nach schwerwiegenden Komplikationen“, sagt Carl Heneghan von der University of Oxford. Was ist falsch gelaufen? Um diese Frage zu klären, nahm der Forscher 61 Mesh Devices mit Zulassung zwischen 1985 und 1996 unter die Lupe. Im Zeitraum habe es mehrfach Änderungen an Implantaten gegeben, ohne dass Informationen an die Zulassungsbehörden gegangen seien, argumentiert Heneghan. Er sieht Regularien der EU-Verordnung vom Mai 2017, um Netze als Klasse III-Medizinprodukte einzustufen, als „großen Fortschritt“. Gleichzeitig kritisiert Heneghan: „Wir halten diese Änderungen für unzureichend, und die lange Verzögerung bei der Umsetzung ist keine rechtzeitige Antwort auf die Bedürfnisse der Patienten.“ Er schlägt nicht nur kürzere Übergangsfristen vor, momentan sind es drei Jahre. Vielmehr fordert der Experte befristete Lizenzen mit regelmäßiger Überprüfung. „Aus unserer Sicht sollten langfristige implantierbare Geräte in Studien mit einer Nachbeobachtungszeit von mindestens fünf Jahren evaluiert worden sein, um als sicher und für eine breite Anwendung sicher zu gelten.“ Patientenregister seien wünschenswert, um Mängel leichter zurückzuverfolgen. Entsprechende Planungen laufen in Deutschland.