Das Gehirn kann aus einer Flut von Informationen herausfinden, welche Teile zu einem Ganzen gehören. Dies gilt auch für vorgestellte Objekte. Der Effekt wurde in den Gehirnbereichen für die Wahrnehmung erkannt, obwohl es sich um Gedächtnisinhalte handelt.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Tür eines Hauses richten, registriert das Gehirn auch bevorzugt dessen Fenster, nicht aber die benachbarten Häuser. Psychologen der Goethe-Universität haben nun herausgefunden, dass dieses Phänomen auch auftritt, wenn Teile der Objekte lediglich in unserem Gedächtnis abgespeichert sind.
„Wahrnehmung und Gedächtnis sind in der bisherigen Forschung meist getrennt betrachtet worden“, erklärt Benjamin Peters, Doktorand am Institut für Medizinische Psychologie in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jochen Kaiser. Dabei sind Parallelen naheliegend, denn genauso, wie wir äußere Reize selektiv verarbeiten können, sind wir auch in der Lage, uns auf diejenigen Gedächtnisinhalte zu konzentrieren, die momentan am wichtigsten sind. Dies sind essentielle Fähigkeiten unseres Gehirns, die eng mit der Intelligenz zusammenhängen und bei verschiedenen psychiatrischen Krankheiten gestört sind. In seiner Studie untersuchten Peters und Kollegen das in der Wahrnehmungsforschung bestens bekannte Phänomen der „objektbasierten Aufmerksamkeit“: die Erfahrung, dass wir, wenn wir nur einen Teil eines Objekts betrachten, unsere Aufmerksamkeit automatisch auf das gesamte Objekt ausdehnen – wie bei der Haustür und den Fenstern. In dem Versuch wurden die Probanden gebeten, ihre Aufmerksamkeit abwechselnd auf eine von vier Bildschirmpositionen zu richten. Zu sehen waren diese als Endpunkte von je zwei künstlichen Objekten. Gemäß dem Prinzip der objektbasierten Aufmerksamkeit konnten die Probanden ihre Aufmerksamkeit schneller zwischen zwei Positionen des gleichen Objekts verschieben als zwischen denen, die zu verschiedenen Objekten gehörten. Neu war, dass dieser Effekt auch dann auftrat, wenn sich die Probanden diese Positionen nur im Kurzzeitgedächtnis vorstellten.
Physiologisch konnten die Forscher den Effekt beschreiben, indem sie die Hirndurchblutung mit Hilfe des Magnetresonanztomographen (MRT) untersuchten. Zunächst fanden sie, wie erwartet, eine erhöhte Aktivität an denjenigen Stellen der Hirnrinde, in denen die aktuell fokussierte Position repräsentiert wurde (visueller und parietaler Kortex). Diese erhöhte Aktivität breitete sich aber auch auf die Bereiche des Gehirns aus, die die jeweils zugehörige Position desselben Objekts repräsentierten, obwohl der Proband sich nicht darauf konzentrierte. „Das ist insofern bemerkenswert, als dass dieser Effekt in Regionen des Gehirns beobachtbar war, die normalerweise Wahrnehmungen repräsentieren, obwohl es sich hier lediglich um Gedächtnisinhalte handelte“, erläutert Peters das Versuchsergebnis. Dagegen blieben die Bereiche unverändert, in denen die gleich weit entfernten Positionen des anderen Objektes repräsentiert werden. Diese Übereinstimmung eines grundlegenden Prinzips der Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung und im Gedächtnis legt nahe, dass sich viele Funktionen der menschlichen Kognition möglicherweise auf wenige grundlegende Mechanismen zurückführen lassen. Originalpublikation: Activity in Human Visual and Parietal Cortex Reveals Object-Based Attention in Working Memory Benjamin Peters et al.; The Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.3795-14.2015; 2015