Übergewichtig, aber Blutdruck, Cholesterinwerte und Blutzucker sind normal – dann ist doch alles in Ordnung, oder? Leider nein. Immer mehr Studienergebnisse weisen darauf hin, dass das Konzept vom metabolisch gesunden Übergewicht schon bald überholt sein könnte.
Jeder zweite Erwachsene in Deutschland ist übergewichtig, 16 % sind adipös. Weltweit sind etwa 39 % übergewichtig und 13 % adipös – das entspricht mehr als 1,9 Milliarden Übergewichtigen und mehr als 600 Millionen Adipösen insgesamt. Die Zahl der betroffenen Personen hat in den letzten Jahrzehnten so rapide zugenommen, dass die WHO schon seit einigen Jahren von einer globalen Adipositas-Epidemie spricht. Dass ein zu hoher BMI das Risiko für Diabetes mellitus, kardiovaskuläre Erkrankungen und Endometrium-, Mamma- oder kolorektale Karzinome erhöht, gilt zwar als sicher. Doch ein Teil der Übergewichtigen scheint zumindest metabolisch gesehen gesund zu sein – dieses Phänomen wird metabolically healthy obesity genannt. Ob dieser Zustand auf Dauer Bestand haben kann, hat nun eine Forschergruppe um Prof. Mika Kivimäki vom University College London (UCL) untersucht. In ihrer Studie untersuchten die Forscher den Gesundheitszustand von 2.521 Personen im Alter von 39 bis 62 Jahren. Über einen Zeitraum von 20 Jahren verfolgten sie bei den Teilnehmern sowohl BMI als auch HDL-Cholesterinwert, Blutdruck, Nüchtern-Plasma-Glukosespiegel, Triacylglyzeride und Insulinresistenz sowie die Einnahme antihypertensiver oder antidiabetischer Medikamente. Zudem wurden die Teilnehmer in adipös (BMI ≥ 30) und nicht-adipös (BMI < 30) unterteilt. Der Anteil gesunder Adipöser betrug zu Beginn 36,5 %. Bereits nach 5 Jahren hatte sich der Gesundheitszustand in dieser Gruppe deutlich verschlechtert: Nun galten 31,8 % der ehemals gesund-adipösen als ungesund-adipös. Nach 10 Jahren betrug der Anteil schon 40,9 % und nach 20 Jahren 51,5 %. Zwar verschlechterte sich im selben Zeitraum auch der Gesundheitszustand der gesunden Nicht-Adipösen, allerdings deutlich geringer: Gesunde Adipöse wiesen ein 8-Mal so hohes Risiko auf, nach 20 Jahren zur Gruppe der ungesund-adipösen zu zählen wie gesunde nicht-adipöse Personen. „Gesunde Adipositas ist eher eine Phase als etwas, das über die Zeit anhält“, erklärt Joseph Bell, Doktorand am UCL und Erstautor der Studie. „Es ist wichtig, gesunde Adipositas über einen längeren Zeitraum zu betrachten und die langfristigen Tendenzen zu bedenken. Alle Arten von Adipositas erfordern eine Behandlung, selbst die, die gesund erscheinen, da sie ein hohes Risiko für zukünftige Verschlechterungen bergen.“
Neben der Gefahr, dass es sich bei gesunder Adipositas nur um einen Zwischenschritt auf dem Weg zur ungesunden Adipositas handelt, könnten bei gesunder Adipositas trotz fehlender pathologischer Indikatoren wie Dyslipidämie und Insulinresistenz andere Risikofaktoren unerkannt bleiben. In einer Studie an knapp 15.000 metabolisch gesunden Erwachsenen verglichen die Forscher um Dr. Yoosoo Chang, die mittels Kardio-CT bestimmte koronare Kalzifikation zwischen metabolisch gesunden Adipösen und metabolisch gesunden Normalgewichtigen. Der Kalzium-Score diente dazu, das Ausmaß an subklinischer Koronar-Atherosklerose zu bestimmen – ein hoher Kalzium-Score ist dabei mit schwerwiegenden unerwünschten kardiovaskulären Ereignissen assoziiert. Die Gruppe der metabolisch gesunden Erwachsenen mit einem BMI über 25 zeigte eine signifikant erhöhte Prävalenz für Koronar-Atherosklerose als die metabolisch gesunden Erwachsenen mit Normalgewicht (BMI 18,5-22,9). „Adipöse Individuen, die als gesund gelten, da sie keine kardialen Risikofaktoren aufweisen, sollten von ihren Ärzten nicht für gesund gehalten werden“, meint Dr. Chang, Erstautor der Studie. „Unsere Forschung zeigt, dass bereits das Bestehen einer Adipositas ausreicht, um das Risiko für zukünftige Herzerkrankungen zu erhöhen. Es ist wichtig, dass solche Personen davon erfahren, solange sie noch eine Chance haben, ihre Diät und Sportgewohnheiten zu ändern, um zukünftige kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern.“ Studien wie diese zeigen, dass ein erhöhter BMI trotz scheinbarer metabolischer Gesundheit keineswegs ein harmloser oder gar günstiger Zustand zu sein scheint.
Das Konzept des metabolisch gesunden Übergewichts ist seit seiner Genese ein kontroverses Thema. Auf der einen Seite stehen die Befürworter der Theorie, deren Ansicht nach gesundes Übergewicht nicht nur unschädlich ist, sondern sogar nützlich. Sie stützen sich auf Studien wie die von Dr. Katherine Flegal, Epidemiologin am US-amerikanischen National Center for Health Statistics. Sie stellte 2013 fest, dass übergewichtige Personen (BMI 25-29,9) eine signifikant niedrigere Mortalität aufwiesen als normalgewichtige Personen (BMI 18,5-24,9). Während sich die Mortalität gering adipöser Menschen (BMI 30-34,9) nicht statistisch von derjenigen normalgewichtiger Menschen unterschied, wiesen Personen mit starker Adipositas (BMI ≥ 35) eine deutlich erhöhte Mortalität auf. Dieses Phänomen ist nicht neu: Bereits 1985 stellte Dr. Reubin Andres, damals Direktor am US National Institute on Aging, fest, dass das Verhältnis zwischen Mortalität und Körpergewicht nicht linear ist, sondern U-förmig. Der tiefste Punkt der Kurve unterschied sich je nach Altersgruppe: Während er für jüngere Menschen weiter links, das heißt bei niedrigeren Körpergewichten liegt, verschiebt er sich mit zunehmendem Alter in Richtung höherer Körpergewichte. Wenn tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen Gewicht und Mortalität besteht, wäre die übliche Empfehlung einer Gewichtsreduktion gerade bei älteren Personen kontraproduktiv. Mögliche Erklärungen für die geringere Mortalität der als übergewichtig geltenden Personen reichen von kardioprotektiven metabolischen Effekten eines erhöhten Körperfettanteils über den Vorteil größerer metabolischer Reserven bis zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit dafür, eine optimale medizinische Behandlung zu erhalten.
Die Gegner der gesunden Übergewichts-Bewegung monieren, dass bei vielen Studien der Effekt konfundierender Variablen nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Ihrer Meinung nach ist es für die Analyse der Daten notwendig zu beachten, dass gerade schwere Krankheiten häufig mit einem Gewichtsverlust einhergehen, was fälschlicherweise zu dem Eindruck führen könnte, dass ein geringes Körpergewicht die Mortalität erhöht. Ebenso werde der Effekt des Rauchens bei vielen Studien unterbewertet: Raucher haben im Durchschnitt ein geringeres relatives Körpergewicht und sterben früher als Nichtraucher. Wenn man die zwei Parameter Krankheit und Rauchen korrekt berücksichtige, stelle sich die U-förmige Verteilung der Mortalitätsrate als Artefakt heraus, behaupten die Gegner der gesunden Übergewichts-Theorie. Und sie können ihre Behauptungen mit eigenen Studienanalysen untermauern: Dr. JoAnn Manson konnte beispielsweise zeigen, dass der BMI von Frauen linear mit der Mortalität steigt. Die geringste Mortalität wiesen die Frauen auf, deren BMI unter 22 lag. Allerdings wurden für diese Analyse die Daten von Raucherinnen nicht berücksichtigt. Wenn man unter den Nichtraucherinnen auch noch diejenigen herausrechnete, die in den ersten vier Jahren nach Studienbeginn verstarben (als Indikator für eine bereits bestehende Erkrankung zum Beginn der Studie und somit einen krankheitsbedingten Gewichtsverlust), zeigten die Frauen mit einem BMI unter 19 die geringste Mortalität. Außerdem konnten die Forscher keine altersabhängige Verschiebung des optimalen BMIs feststellen. Eine weitere Analyse, diesmal an 1,46 Millionen erwachsenen Männern und Frauen, zeigte, dass die geringste Mortalität bei einem BMI zwischen 22,5 und 24,9 lag – selbst, wenn Raucher und erkrankte Personen mit einberechnet wurden. Analysierte man nur die Daten der gesunden Nichtraucher, lag der optimale BMI bei 20 bis 25. Lediglich bei gesunden Nichtrauchern mit einem BMI unter 18 – die damit als untergewichtig gelten – wurde eine erhöhte Mortalität festgestellt; in dieser Gruppe stieg die Mortalität mit abnehmendem BMI. Gleichzeitig stieg in der Gruppe mit einem BMI über 25 die Mortalität mit zunehmendem BMI an. Dabei war ein hoher BMI für junge (Alter 20-49 Jahre) gesunde Nichtraucher mit einem deutlich höheren Risiko verbunden als für gesunde Nichtraucher über 50.
Die Frage, was Ursache und was Wirkung ist, wird die Forscher wohl noch eine Weile beschäftigen. Allerdings scheint der Hauptgrund für die hitzige Diskussion um das gesunde Übergewicht weniger darin zu liegen, wessen statistische Analysemethode nun tatsächlich die richtige ist, sondern vielmehr darin, welche Botschaft die Ergebnisse vermitteln. Die Angst, dass positive Berichte über gesundes Übergewicht von manchen Menschen als Freifahrtschein für eine Gewichtszunahme gesehen werden könnten, treibt so manchem Gesundheitsexperten den Angstschweiß auf die Stirn. Sie sehen ihre Bemühungen, die Adipositas-Welle einzudämmen, von diesen Ergebnissen untergraben. Derweil mehrt sich die Kritik an etwas ganz anderem: Am Konzept des BMI selbst. Entscheidend für den prognostischen Wert ist nämlich nicht allein das Verhältnis von Körpergröße und Gewicht. „Ob Übergewicht die Gesundheit bedroht, hängt entscheidend davon ab, wie das Fett verteilt ist und wie viel Muskelmasse vorhanden ist“, betont Prof. Matthias Blüher, Endokrinologe am UKM Leipzig und Leiter der dortigen Adipositas-Ambulanz. Insbesondere das viszerale Fett ist ins Visier von Ärzten und Forschern gerückt – ein Bauchumfang von mehr als 88 cm bei Frauen und 102 cm bei Männern gilt als Risiko. Grund dafür ist die starke hormonelle Aktivität der Adipozyten in diesem Gewebe. „Aussagekräftige Werte erhalten wir deshalb auch nur, wenn wir weitere Daten messen“, so Prof. Blüher. „Dazu zählen insbesondere der Hüft- und der Bauchumfang sowie seit einiger Zeit auch der Halsumfang.“