Das Gehirn muss extrem schnelle Abfolgen von Sinnesreizen verarbeiten und lernen. Das klappt schneller, wenn Neuronen in die Zukunft schauen können – dank eines speziellen Mechanismus.
In ihrer Studie haben sich die Berner Forscher mit der Frage beschäftigt, wie die tiefen, komplexen neuronalen Netzwerke im Gehirn lernen, Sinnesreize zu erkennen. „Man stelle sich vor, ein Kind sieht zum ersten Mal ein Velo [Fahrrad]“, erklärt Paul Haider, Erstautor der Studie. „Die Information fließt von der Netzhaut im Auge über viele Neuronen bis zu einer Region im Hirn, in welcher sich Neuronen darauf spezialisieren, dieses neue Konzept eines Velos zu erfassen. Allerdings müssen nicht nur diese wenigen Neuronen lernen, Velos als solche zu erkennen. Auch alle Neuronen dazwischen müssen sich anpassen, um die visuelle Information möglichst effizient zu verarbeiten.“
Dieses Problem ist in der Hirnforschung als Credit Assignment Problem bekannt: Welchen Beitrag leisten einzelne Neuronen zur Funktion des Netzwerks als Ganzes? Eine wesentliche Schwierigkeit dabei ist, dass Neuronen nicht beliebig schnell reagieren können. Bis Neuronen im Schläfenlappen auf das Bild eines Velos antworten, schaut das Auge möglicherweise bereits auf ein anderes Objekt in der Umgebung. Ohne eine Lösung für dieses Problem würden ständig falsche Assoziationen gelernt werden. Bislang gab es noch keine Erklärung dafür, wie unser Gehirn diese Herausforderung meistern könnte.
„Neuronen mögen langsam erscheinen, aber sie haben einen Trick“, sagt Benjamin Ellenberger, ebenfalls Mitglied des Forscherteams. „Sie können die Änderungen, die sie wahrnehmen, verwenden, um ein Stück weit die unmittelbare Zukunft vorherzusagen. Es ist ein bisschen wie bei einer Autofahrt: Wenn ich weiß, wo ich gerade bin und mit welcher Geschwindigkeit ich fahre, kann ich jetzt schon ungefähr vorhersagen, wo ich in einer Stunde sein werde.“
Die Langsamkeit von Neuronen kann dank dieser Fähigkeit kompensiert werden und Signale können sich dadurch blitzschnell durch das Gehirn fortsetzen. Somit können sich weit auseinanderliegende Teile des Gehirns synchronisieren und dadurch korrekte zeitliche Assoziationen lernen. „Das Sehen und Erkennen eines Autos passiert nahezu gleichzeitig“, erklärt Ellenberger weiter. „Das erlaubt uns, unseren Blick schnell von Objekt zu Objekt in unserer Umwelt springen zu lassen, ohne unsere Lernfähigkeit einzuschränken.“
Diese Idee hilft nicht nur dabei, Lernen im Gehirn zu verstehen, denn das Problem langsamer Informationsübertragung findet sich in allen physikalischen Systemen wieder und hat daher auch große Bedeutung für die Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI). Laura Kriener, eine weitere Koautorin der Studie, ist auch an der Entwicklung und Anwendung sogenannter neuromorpher Hardware beteiligt. „Moderne KI geht Hand in Hand mit Forschung in der Neurobiologie“, sagt Kriener. „Neuromorphe Hardware vereinigt Aspekte beider Felder.“ Diese neuartigen Chip-Architekturen enthalten Schaltkreise, die sich sehr ähnlich zu Neuronen im Gehirn verhalten. Der von den Forschern vorgeschlagene Mechanismus eröffnet daher diesen ohnehin schnellen und energieeffizienten Systemen neue Möglichkeiten.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Bern. Die Studienergebnisse haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Sawyer Bengtson, Unsplash