Merken Ärzte, dass ein Kollege bei einer Behandlung Mist gebaut hat, stehen sie vor einer schwierigen Entscheidung: Den Fehler offenlegen? Oder ist die Kritik am Kollegen vor dem Patienten ein absolutes No-Go?
In einem Gespräch sagte eine Kollegin vor einiger Zeit einen Satz, der mich danach erst einmal nicht losgelassen hat: „Es steht mir definitiv nicht zu, vor dem Patienten die Handlungen anderer Kollegen zu kritisieren.“
Ich finde diesen Satz sehr schwierig, weil dort eine absolute Formulierung benutzt wird, die ich so nicht unterschreiben kann. Natürlich ist es immer schwierig, rückwirkend eine Situation zu beurteilen. Jeder kennt im medizinischen Bereich (und auch sonst) Konstellationen, wo zwei Menschen aneinander vorbei geredet haben und deswegen etwas völlig anderes rausgekommen ist, als eigentlich geplant war.
In Erinnerung ist mir dieser Fall geblieben: Eine Patientin im Krankenhaus berichtete mir von „sehr starken Oberbauchschmerzen, teils bis in den Rücken ausstrahlend“. Also habe ich entsprechende Laborwerte (Leberwerte, Lipase, etc.), eine Ultraschalluntersuchung des Bauches und eine Magenspiegelung angeordnet. In der Oberarztvisite später sprach sie aber von „massiven Rückenschmerzen“, die erst auf Nachfrage in den Bauch ausstrahlten. Das Schmunzeln meines Oberarztes („Warum ordnest du denn bei Rückenschmerzen eine Gastro an?“) habe ich bis heute nicht vergessen.
Er war nicht sauer, weil er das Phänomen selbst kannte. Aber das hat mir damals sehr deutlich vor Augen geführt, dass auch unser eigenes Erleben und deswegen auch jedes Gespräch mit dem Patienten einfach eine subjektive Interaktion ist. Und deswegen auch schwierig im Rückblick zu beurteilen.
Trotzdem sehe ich den Satz der Kollegin sehr kritisch. Denn ich habe Situationen erlebt, in denen Patienten eindeutig durch falsche Behandlungen ein Schaden entstanden ist. Sicherlich nicht mit Absicht, aber darum geht es ja nicht. Was sage ich denn einer Patientin, wenn zum Beispiel das falsche Bein geröntgt wurde, obwohl es absolut sichere Frakturzeichen gab (Krepitationen, einen zusätzlichen „Knick“ im Bein, wo keiner hin gehört, etc.)? „Nein, der Kollege hat keinen Fehler gemacht?“
Das geht nicht, denn des wäre eine Lüge. Das heißt nicht, dass ich den Kollegen niedermachen soll! Wir sind alle (nur) Menschen.
Aber als Arzt zu sagen „Ich kann das mit meinen jetzigen Informationen nicht nachvollziehen“ ist nach meiner Erfahrung etwas, das die Patienten erstmal erleichtert, weil sie sich ernst genommen fühlen. Damit kommt ein bisschen Ruhe in die Sache. Denn wie ich in einem anderen Beitrag schon erwähnt habe: Die Patienten wissen ja, dass auch wir nur Menschen sind und Fehler passieren können. Bei eigenen Fehlern würde ich deswegen immer versuchen, das offen anzusprechen.
Bei dem Verhalten von anderen Ärzten ist die Sache komplizierter, vor allem juristisch. Denn in der Berufsordnung z.B. der Ärztekammer Nordrhein steht explizit:
„(4) In Gegenwart von Patientinnen und Patienten oder anderen Personen sind Beanstandungen der ärztlichen Tätigkeit und zurechtweisende Belehrungen zu unterlassen. Das gilt auch im Verhältnis von Vorgesetzten und Mitarbeitern und für den Dienst in Krankenhäusern.“
Gleichzeitig heißt es im Paragraph 630c Absatz 2 des BGB:
„[...]Sind für den Behandelnden Umstände erkennbar, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, hat er den Patienten über diese auf Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren zu informieren. Ist dem Behandelnden oder einem seiner in § 52 Absatz 1 der Strafprozessordnung bezeichneten Angehörigen ein Behandlungsfehler unterlaufen, darf die Information nach Satz 2 zu Beweiszwecken in einem gegen den Behandelnden oder gegen seinen Angehörigen geführten Straf- oder Bußgeldverfahren nur mit Zustimmung des Behandelnden verwendet werden.“
Es ist also etwas kompliziert: Berufsrechtlich darf ich nichts Kritisches sagen. Und laut BGB soll ich nur „auf Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren“ sagen, wenn etwas falsch gelaufen ist (was ja dann sogar mit der Berufsordnung kollidieren würde, aber das müsste im Zweifelsfall ein Jurist klären).
Wobei die Nachfrage meiner Erfahrung nach durchaus häufiger kommt. Die Patienten merken ja meistens, wenn etwas nicht gut gelaufen ist. Zum Beispiel, wenn die komplette Medikation plötzlich umgestellt werden muss oder dann doch eine Krankenhauseinweisung notwendig wird, wie bei dem oben erwähnten Beinbruch. Wenn man dann zu sehr um den heißen Brei herum redet und nicht auf die Bedenken des Patienten eingeht, entsteht nur der Eindruck, dass „eine Krähe der anderen kein Auge aushackt“ und man etwas vertuscht. Das schadet der vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung.
Um das nochmal zu betonen: Das heißt nicht, dass man über andere Kollegen lästern soll! Deswegen finde ich die oben genannte Formulierung angemessen: Ich erkenne an, dass der Patient Bedenken hat (denn ich kann das Verhalten ja auch nicht nachvollziehen), aber ich ergehe mich nicht direkt in Schuldsprüchen oder Verurteilungen. Wenn ich denke, dass da etwas arg schief gelaufen ist, kann ich dem Patienten immer noch empfehlen, sich an die Krankenkasse oder die Gutachterkommission zu wenden. Die können dann ggf. das Ganze entsprechend detaillierter beurteilen. Ich bin nur Landärztin, kein Richter und kein Gutachter.
Wie ich mit dem Kollegen umgehe, mache ich auch davon abhängig, was vorher war: Hat der Patient seine Bedenken schon angesprochen und der Kollege hat es „abgebügelt“? Dann würde ich nicht noch anrufen, weil sich dadurch keine neue Situation ergibt. Wenn wie im obigen Fall mit dem Beinbruch ein Fehler mit Konsequenzen erstmalig auffällt, versuche ich schon, den Kollegen kurz zu informieren, wenn der Patient einverstanden ist (Datenschutz!). Dann kann der Kollege nämlich selbst überlegen, ob er das Gespräch mit dem Patienten suchen will. Was der zuständige Chefarzt in dem Beinbruch-Fall auch getan hat. Von der Patientin wurde das als sehr positiv empfunden.
Man sollte aber vor allem an das Wichtigste denken: Den Fehler berichtigen und überlegen, wie sich der Fehler in Zukunft vermeiden lässt.
Wir suchen meines Erachtens nach in Deutschland zu oft nach dem Schuldigen anstatt uns zu fragen, was man hätte besser machen können, damit es nicht nochmal passiert. In der Hinsicht finde ich Konzepte wie die CIRS („Critical Incident Reporting Systems“), bei denen schwierige Situationen dargestellt werden, damit man Lösungsansätze finden kann, eine sehr gute Idee. Es geht nicht um juristische Verfolgung, sondern um Hilfe bzw. um die Vermeidung zukünftiger Probleme.
Das finde ich den besseren Ansatz. Denn medizinisches Personal arbeitet nunmal häufig unter Zeitdruck und es passieren damit Fehler. Der Leidtragende ist der Patient – deswegen braucht er (dann erst recht) unsere Unterstützung. Sowohl fachlich als auch oft emotional, indem seine Bedenken ernst genommen werden. Nicht „gegen den Kollegen“, sondern „für den Patienten“.
Bildquelle: Usman Yousaf, unsplash