Nachdem ein kleiner Junge in Berlin an den Masern gestorben ist, fordern Politiker Konsequenzen. Apotheker präsentierten schon vor Monaten Konzepte – und scheiterten am Widerstand des Bundesrates. Eine Impfpflicht sehen sie im Unterschied zu Ärzten noch skeptisch.
Die neunjährige Angelina aus Kleinostheim hat nicht mehr lange zu leben. Sie bekam mit drei Monaten Masern – und leidet heute an einer subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE). Kausale Therapien gibt es nicht. Symptomatische Behandlungen verlängern das Leben um Monate oder Jahre. Kein Einzelfall: Max S. aus Sachsenheim ist 2014 an den Folgen von SSPE gestorben. „Es tut sehr, sehr weh“, schreiben die Eltern. „Noch schlimmer wird es, wenn man darüber nachdenkt, dass er heute noch leben könnte, hätten ungeimpfte Kinder ihn 1995 nicht mit dem Masern-Virus angesteckt.“ Und beim kürzlich verstorbenen Kleinkind aus Berlin gingen Mediziner noch von einer Vorerkrankung aus, die zum Tod geführt hätte. „Maserntod ein Fake“, titelte das Portal „Impfen? Nein, danke!“. Schließlich obduzierten Ärzte den Körper des Verstorbenen. Die Charité bestätigte kurz darauf, dass Masern ursächlich zum Tode geführt haben. „Das Kind war geimpft, aber nicht gegen Masern“, sagte Berlins Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU). Nach aktuellen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) sollte die Erstimpfung im Alter von elf bis 14 Monaten erfolgen, nicht früher – eine gefährliche Lücke. Hinzu kommt, dass sich immer weniger erwachsene Menschen impfen lassen. Jetzt sind Apotheker gefragt.
In diesem Zusammenhang melden sich Standesvertreter zu Wort. Versicherte suchen nicht selten in ihrer Apotheke Rat, bevor sie zum Arzt gehen. Die Landesapothekerkammer (LAK) Baden-Württemberg empfiehlt Patienten dringend, sich impfen zu lassen. Impfrisiken seien „angesichts der Krankheit überschaubar“, heißt es in einer Information für Pharmazeuten. LAK-Präsident Dr. Günther Hanke ergänzt: „Ich warne eindringlich alle Eltern vor sogenannten Masernpartys.“ Wer sein Kind absichtlich dieser Gefahr aussetze, mache sich eventuell strafbar und riskiere bleibende Schäden bis zum Tode. Ziel ist, Skeptiker im Handverkauf zu überzeugen: vielleicht der effektivste Weg.
An und für sich kein neuer Gedanke: Im November hatte die ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände umfangreiche Stellungnahmen zum Präventionsgesetz formuliert. Standesvertreter schlugen vor, den Impfstatus als honorierbare Leistung zu überprüfen, um gravierende Probleme aufgrund geringer Durchimpfungen zu lösen. Sie brachten elektronische Impfausweise ins Gespräch, die „mit Einverständnis des Versicherten von Ärzten und Apothekern geführt werden“. Niedrigschwellige Angebote seien zeitnah beziehungsweise wohnortnah erreichbar. Und natürlich sahen Apotheker darin einen Weg, die alte Problematik zu umgehen, dass elektronische Gesundheitskarten momentan keine weiteren Funktionalitäten zulassen. Ein weiteres Argument: Immer wieder kommt es zu Versorgungslücken bei Impfstoffen. Vor mehr als zwölf Monaten waren unter anderem MMR-Impfstoffe betroffen. Als Lösung schlug die ABDA vor, Vertragsärzte sollten Impfstoffe über Apotheken aus der Region beziehen. Ländervertreter griffen entsprechende Forderungen im Bundesrat nicht auf.
Angesichts dieser Enttäuschung stellen sich Pharmazeuten vor Ort immer häufiger hinter Forderungen der Ärzteschaft, während sich apothekerliche Verbände bedeckt halten. Andere Heilberufler reden Klartext: „Aus medizinischen Gründen spricht alles für eine solche Pflicht“, sagt Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK). Eigentlich habe sich Deutschland gegenüber der Weltgesundheitsorganisation WHO verpflichtet, Masern bis zu diesem Jahr zu eliminieren. Montgomery: „Davon sind wir weit entfernt.“ Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, geht einen Schritt weiter. Die Einführung einer Impfpflicht sollte zwar immer das Letztmittel sein, betonte Jonitz. In Anbetracht von aktuell über 500 Fällen, dem größten Masernausbruch seit 2001 in Deutschland, sei eine Impfpflicht aber "kein Eingriff in Persönlichkeitsrechte", sondern diene dem Schutz der Bevölkerung, insbesondere dem Schutz von Kindern. „Der Gesetzgeber sollte seine Aufgabe des Bevölkerungsschutzes ernst nehmen und mutig entsprechende Maßnahmen einleiten“, erklärte Jonitz. Er spricht sich dafür aus, dass Krankenkassen auch die Impfkosten für Versicherte zahlen, die vor 1970 geboren wurden. Zum Hintergrund: Laut Angaben des Robert-Koch-Instituts liegt die Impfquote bei 96 beziehungsweise 92 Prozent für die erste und zweite Impfung. Defizite bestünden vor allem bei Jugendlichen und Erwachsenen. Deshalb gibt es momentan keine ausreichende Herdenimmunität. Und trotz aktueller Ausbrüche keinen steigenden Bedarf an Impfstoffen, berichten Hersteller sowie Großhändler. Lieferengpässe? Keine Spur. Bei Patienten ist die Botschaft noch nicht angekommen.