Erweiterung der bundesstaatlichen Kompetenzen in Sachen Public Health, oder doch Quasi-Zerschlagung des RKI? Ein erster Wunschzettel an das Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die öffentliche Gesundheitsfürsorge jenseits der kommunalen Ebene in Deutschland mehr oder weniger inexistent ist, dann lieferte sie die Zusammensetzung des 19-köpfigen Expertengremiums der neuen Bundesregierung zu COVID-19. Virologen und Modellierer en masse, aber kein Public Health Experte. Nicht einmal der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung – einer der ganz wenigen in Deutschland mit praktischen Erfahrungen im Outbreak-Management – wurde berücksichtigt. Für eine Regierung, die sich die Einrichtung eines neuen Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit in den Koalitionsvertrag geschrieben hat, ist das schon ein Statement.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht ändert sich der Stellenwert von Public Health in Deutschland mit dem neuen „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ ja tatsächlich. Dazu freilich müsste erstmal klar sein, was man sich genau vorstellt. Im Interview mit MedWatch brachte es der Politwissenschaftler Robin Rüsenberg gerade auf den Punkt: „Was den Ampel-Partnern nun genau vorschwebt, lässt Raum für Interpretationen.“
Der Koalitionsvertrag besagt, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – schon heute eine Behörde des Bundesgesundheitsministeriums – in dem neuen, ebenfalls am BMG angesiedelten Institut aufgehen soll. Demnach ist die Gesundheitskommunikation eine zentrale Aufgabe des „BÖG“. Zusätzlich soll das Institut für die Vernetzung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) zuständig sein und die Aktivitäten des Bundes im Bereich Public Health bündeln.
So weit die Theorie. Manche lesen da eine reine institutionelle Rochade ohne grundsätzliche Veränderungen heraus, andere sehen die entsprechenden Passagen als Ankündigung einer partiellen Zerschlagung des RKI, dem künftig „nur noch“ die Wissenschaft bleiben könnte. Es ist ohnehin eine große Ironie, dass das RKI als oberste Behörde für Infektionskontrolle und eben öffentliche Gesundheitsfürsorge im Bewusstsein der Öffentlichkeit im Wesentlichen als „Wissenschaft“ verankert ist. Nur das ermöglichte es ihrem Präsidenten Lothar Wieler, sich wiederholt vor die Bundespressekonferenz zu stellen und zu beklagen, dass der wissenschaftliche Expertenrat seines Instituts ignoriert werde – während ihm gleichzeitig kritische Fragen dahingehend weitgehend erspart blieben und bleiben, warum seine Behörde seit zwei Jahren immer wieder in Situationen rutscht, in denen sie relevante Daten nicht zeitnah liefern kann, obwohl das eigentlich ihre Kernaufgabe wäre.
Nur weil das deutsche Gesundheitswesen und damit das RKI als zuständige Behörde im Winter 2020/21 monatelang nicht in der Lage war, belastbare Aussagen zum Alter der Intensivpatienten zu liefern, konnten der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und andere wochenlang die Falschnachricht verbreiten, die Intensivpatienten würden immer jünger. Dass die an sich folgerichtige Nutzung der Hospitalisierungsquote für die Pandemiesteuerung an deren Datenqualität scheitert, obwohl die Bundesoberbehörden mindestens genauso viel Zeit gehabt hätten, hier für eine ordentliche Datenqualität zu sorgen, ist ein weiteres Beispiel für diese Defizite auf allerhöchster Ebene.
Es gibt also gewisse Erwartungen an ein „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ und diese Erwartungen haben mindestens so viel mit Daten und Datenqualität zu tun, wie mit koordinierter Kommunikation. Der erste, der sich jetzt mit konkreten Wünschen aus der Deckung wagt, ist das Kompetenznetz Public Health/COVID-19, das auf die Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH), die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) sowie die Deutschen Gesellschaften für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und für Medizinische Soziologie (DGMS) zurückgeht.
In seiner Stellungnahme listet das Kompetenznetz die Probleme im öffentlichen Gesundheitssektor in Deutschland noch einmal im Detail auf:
Aufbauend auf diesen Defiziten geben die Public Health Experten der Politik eine Reihe von Empfehlungen mit in die Weihnachtsferien, die zumindest einen ersten Überblick darüber geben, welche Erwartungen ein Bundesinstitut, das diesen Namen verdient, erfüllen müsste. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass ein solches Institut – soll es nachhaltig und präsent sein – kein reines Pandemie-Institut sein dürfe. Vielmehr müsse es sich um das gesamte Spektrum der Public Health Themen kümmern. Das heißt vor allem Krankheitsrisiken durch soziale Ungleichheit in den Blick nehmen, das breite Spektrum der Gesundheitsförderung adressieren und künftige gesundheitliche Risikokonstellationen wie den Klimawandel bearbeiten.
Institutionell muss das Institut seine koordinierende Funktion wirklich wahrnehmen können. Auch das RKI hatte diese koordinierende Funktion auf dem Papier ja bisher inne, konnte sie aber dank föderaler Strukturen und finanzieller Engpässe nie wirklich ausfüllen. Das digitale Komplettversagen des deutschen öffentlichen Gesundheitsdienstes, dem jahrelang halbherzig vorangetriebene Arbeiten auf diversen Behördenebenen vorausgingen, war nur ein Resultat dieses Exekutivdefizits. Es wird also nicht reichen, einen Koordinator zu ernennen. Es müssen auch Mittel und Wege geschaffen werden, Einheitlichkeit in überschaubaren Zeiträumen durchzusetzen.
Was die Gesundheitskommunikation angeht, werden vor allem Kommunikationsstrategien betont, die ungleiche Gesundheitschancen reduzieren können. Dazu wird es sehr viel stärker als bisher erforderlich sein, in unterschiedliche Lebenswelten „hineinzukommunizieren“. Dass das im 21. Jahrhundert nicht zuletzt Mehrsprachigkeit und kulturelle Diversifizierung bedeutet, wird zwar nicht eigens erwähnt, ist aber kein Geheimnis.
Schließlich sehen die im Kompetenznetz Public Health zusammengeschlossenen Fachgesellschaften auch die Evidenzgenerierung im Bereich (nicht-pharmazeutischer) ÖGD-Maßnahmen als wichtige Aufgabe des neuen Instituts an. Das betrifft zum einen institutionelle Strukturen, die in Analogie zu IQWiG oder AWMF Reviews und Leitlinien erstellen können, zum anderen aber auch die Förderung von Forschung in diesem Bereich. Dass die Zahl der Akteure, die derartige Forschung auf internationalem Niveau in Deutschland durchführen können, sehr begrenzt ist, ist kein Geheimnis. Es darf also nicht nur um Projektfördermittel, es muss auch um Kompetenzaufbau gehen.
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