Seltene Krankheiten, auch Orphan Diseases, stehen nicht oft im Rampenlicht. Bei DocCheck wird sich das jetzt ändern: Wir widmen ihnen einen ganzen Info-Kanal. Den Auftakt zur neuen Serie macht unser Übersichts-Artikel.
Es gibt viele parabelartige Bezeichnungen von Erkrankungen. Die Palliativmedizin verdankt ihren Namen beispielsweise dem lateinischen Wort Pallium für Mantel: Der Patient wird mit medizinischer Fürsorge eingehüllt. Auch die Bezeichnung für seltene Erkrankungen entstammt einem Gleichnis. Sie werden als Orphan Diseases bezeichnet. Das englische Wort Orphan bedeutet, aus dem Lateinischen abgeleitet, Waise. Diese verwaisten Erkrankungen und deren Therapie stellt DocCheck im neuen Jahr regelmäßig vor.
Selten heißt nicht unwichtig. Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen Erkrankung. Hinter ihnen liegt eine Odyssee langer und vergeblicher Diagnoseversuche. Sie fallen häufig durch das diagnostische und therapeutische Raster. Aber nicht nur Spezialisten sind für die Betreuung gefragt. Oft ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner, der die Aufgabe hat, die Weichen für eine adäquate Therapie zu stellen.
Statistisch betrachtet leiden fünf von hundert Patienten, die beim niedergelassenen Praktiker Hilfe suchen, an einer seltenen Erkrankung. Definitionsgemäß liegt eine solche vor, wenn die Prävalenz unter fünf pro 10.000 Einwohner beträgt. Die Anzahl der Patienten mit seltenen Erkrankungen ist also mehr als doppelt so hoch wie beispielsweise die Anzahl der Rheumapatienten. Doch bei diesen liegt nur eine Handvoll von Krankheitsbildern vor – bei Orphan Diseases hingegen bilden tausende Krankheiten diese Gruppe.
Erwachsene mit seltenen Erkrankungen brauchen statistisch gesehen 5 bis 30 Jahre, bis sie ihre korrekte Diagnose erhalten. Aber selbst wenn das dann geschehen ist, ist das Arsenal der Therapiemöglichkeiten begrenzt oder gar nicht vorhanden. Der überwiegende Teil der seltenen Erkrankungen ist bis heute unheilbar und mit schwersten Beeinträchtigungen für die Betroffenen und ihre Familien verbunden. Es mangelt an Spezialisten und Spezialambulanzen und oftmals sind keine wirksamen Therapien vorhanden.
Das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) sieht folgende Probleme:
Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) ist ein Netzwerk von Selbsthilfeorganisationen. Die Vereinigung tritt als Sprachrohr, Multiplikator und Vermittler auf. Sie will „die Seltenen“ in das öffentliche Bewusstsein bringen, Forschungsförderungen anregen sowie Ärzte und Therapeuten vernetzen. Mit ihren mehr als 130 Patientenorganisationen vertritt ACHSE deren Interessen in Politik und Gesellschaft, in Medizin, Wissenschaft und Forschung national und auf europäischer Ebene. Der eingetragene Verein ist als Nationale Allianz Seltener Erkrankungen Mitglied der Europäischen Organisation für Seltene Krankheiten EURORDIS – Rare Disease Europe.
Eine weitere, internationale Anlaufstelle für Betroffene und Mediziner ist Orphanet. In diesem Netzwerk arbeiten 37 Länder zusammen, es wird von der Europäischen Kommission kofinanziert. Die Datenbank ist eine umfassende und von Experten überprüfte Wissensquelle speziell für seltene Erkrankungen. Orphanet enthält Beschreibungen von über 6.172 klinisch eindeutigen Orphan Diseases.
Die Medikamente gegen seltene Krankheiten werden als Orphan Drugs (OD) bezeichnet. Obwohl es insgesamt nur 129 Orphan Drugs in der EU gibt, sind 20 von ihnen auf der Liste der Top-30 der Medikamente mit dem höchsten Apothekenverkaufspreis. Nicht selten ruft das unter Patienten und Kostenträgern Unmut hervor. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Entwicklung von ODs sehr zeitaufwendig und kostenintensiv ist. Die Rekrutierung von Probanden für Studien ist schwierig und die Anzahl der potenziellen Patienten nach erfolgreicher Zulassung ist gering. Bemerkenswert ist, dass etwa zwei Drittel der Firmen, die Orphan Drugs zulassen, nur dieses eine Arzneimittel in ihrem Portfolio haben.
Das teuerste Medikament der Welt ist auch ein Orphan Drug. Eine Infusion kostet etwa zwei Millionen Euro, aber dazu später mehr im Beitrag.
Das Zulassungsverfahren eines Wirkstoffs als Orphan Drug verläuft zweistufig. Als Erstes erfolgt die Zuerkennung des Orphan-Status durch den Ausschuss für Arzneimittel gegen seltene Krankheiten (Committee for Orphan Medicinal Products, COMP) bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA. Die Zulassung eines Orphan Drug erfolgt im zweiten Schritt durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP). Orphan Drugs können sehr viel leichter als andere Wirkstoffe ein beschleunigtes Beurteilungsverfahren (Fast Track Procedure) zugesprochen bekommen.
Eine Unternehmen, das ein OD auf den Markt bringen möchte, genießt zahlreiche Vorteile für die Prüfung. Eine wissenschaftliche Beratung durch die Zulassungsbehörde EMA kostet etwa 75.000 Euro, das Zulassungsverfahren etwa 250.000 Euro. Kleinen und mittleren Unternehmen werden diese Kosten erlassen. Diese und weitere Vergünstigungen sind notwendig und sinnvoll, um einen Anreiz für Entwicklung von ODs zu schaffen. Die Verordnung ist seit dem Jahr 2000 in Kraft, bis dahin wurde etwa ein entsprechendes Arzneimittel pro Jahr zugelassen. Die Verordnung hat dazu geführt, dass jetzt durchschnittlich ein Dutzend OD pro Jahr in der EU zugelassen werden, Tendenz steigend. In den USA sind die Zulassungshürden geringer, dort sind etwa fünf Mal so viele ODs zugelassen wie in der EU.
Für Arzneimittel gegen seltene Leiden gilt bislang der Zusatznutzen automatisch als belegt, sofern sie einen GKV-Umsatz in Höhe von 50 Mio. Euro im Jahr nicht überschreiten.
Überschreitet das Arzneimittel jedoch diese Umsatzgrenze, steht eine Nutzenbewertung durch das IQWIG an – dann kommen zahlreiche Probleme auf den Hersteller zu. Der Standard der Nutzenbewertung basiert auf randomisierten, zweiarmigen, doppelt verblindeten placebokontrollierten klinischen Studien. Zahlreiche ODs erhalten daher zwangsläufig den Stempel „kein Zusatznutzen“, weil diese Kriterien für seltene Krankheiten nicht erfüllt werden können. Eine placebokontrollierte Studie ist aus ethischen Gründen meist nicht vertretbar, da die Patienten in der Placebogruppe untherapiert versterben würden.
Auch wenn die Liste der seltenen Erkrankung lang ist, ist die der pathogenetischen Eingruppierungen kurz. Die meisten ODs sind zugelassen bei Karzinomerkrankungen, Enzymdefekten oder lysomalen Speicherkrankheiten. Deshalb sind viele Orphan Drugs Biologika, aber auch bekannte Wirkstoffe wie Ibuprofen und Mannitol werden bei seltenen Erkrankungen eingesetzt.
80 Prozent der Erkrankungen sind genetisch determiniert und verursachen bereits vor dem 18. Geburtstag Probleme. Die Genveränderungen können angeboren oder durch Umwelteinflüsse erworben sein.
Wo möglich, sollte in der Medizin grundsätzlich eine kausale Therapie angestrebt werden. Für die meisten selten Erkrankungen würde dies eine Gentherapie bedeuten. Gibt’s schon, gab auch schon einen Nobelpreis für, ist aber ethisch nicht unumstritten.
Eine Möglichkeit ist das Genom-Editing, mit dem die DNA in einer lebenden Zelle verändert werden kann. Diese Technologie hat das Potenzial, viele genetische Krankheiten zu behandeln, die durch Veränderungen im genetischen Code verursacht werden. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Methoden der Gentherapie, bei denen in der Regel eine funktionsfähige Kopie des mutierten Gens in die Zellen des Patienten eingeschleust wird, wird beim Genome-Editing das mutierte Gen ersetzt und/oder entfernt. Dadurch wird verhindert, dass das ursprüngliche mutierte Gen weiterhin ein schädliches Protein produzieren kann.
Werkzeuge zur Genom-Editierung ermöglichen es, die Ursache und nicht nur die Symptome von genetischen Krankheiten zu bekämpfen. Das neueste Genom-Editing-System ist das CRISPR/Cas9-Verfahren. Es ist schnell, preiswert, zielgenau und technisch vergleichsweise einfach anzuwenden. Wichtig ist allerdings, dass sich diese Technologie noch in der Entwicklung befindet und es noch viele Jahre dauern kann, bis Genome-Editing den Patienten mit seltenen Krankheiten direkt zugute kommen könnte.
Es gibt aber auch Beispiele für Gentherapien, die bereits verfügbar sind. So ist seit Mai 2020 in Europa Zolgensma® gegen spinale Muskelatrophie zugelassen (wir berichteten). Diese Krankheit führt unbehandelt oft bereits vor Erreichen des zweiten Lebensjahres zum Tod. Eine einzige Infusion mit dem Wirkstoff soll die Erkrankung stoppen. Die Gesellschaft für Neuropädiatrie begrüßt es, dass die Genersatztherapie zur Verfügung steht. Für Betroffene ist die Möglichkeit einer einmaligen intravenösen Therapie verständlicherweise mit großen Hoffnungen verbunden.
Das Alleinstellungsmerkmal und die einmalig zu verabreichende Applikation macht Zolgensma® zum kostspieligsten Medikament der Welt (wir berichteten). Aber dabei sollte nicht vergessen werden, dass damit die Erkrankung geheilt werden und ein Leben gerettet werden kann. Wie in der gesamten Therapie bei seltenen Erkrankungen sollten aus medizinethischen Gründen finanzielle Aspekte eine untergeordnete Rolle spielen, damit die Patienten nicht verwaist und allein gelassen werden.
Interesse geweckt? Hier geht es zum ersten Teil der Serie.
Bildquelle: Michał Parzuchowski, Unsplash