Der Bundesgerichtshof untersagt die pauschale Werbung für die ärztliche Fernbehandlung. Was bedeutet das für unser Gesundheitssystem?
Kopfschütteln vielerorten: Deutschland wird seinem Ruf als Land der Bremser und Bedenkenträger in Sachen digitales Gesundheitswesen einmal mehr gerecht. Auf der Bremse stehen diesmal nicht die Kassenärztliche Bundesvereinigung oder der G-BA – sondern Karlsruhe. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in der vergangenen Woche das Urteil im jahrelang sich schon hinziehenden ottonova-Prozess gefällt. Die private Krankenversicherung bietet seit 2017 Arztbesuche per App an. Also schon lange bevor 2019 die Lockerung des Fernbehandlungsverbots in Deutschland kam und bevor die Pandemie dem ganzen Thema eine völlig neue Dimension gegeben hat.
Die Fernbehandlung bei ottonova erfolgt durch Ärzte in der Schweiz, wo diese Art der Patientenbetreuung lange etabliert und fester Bestandteil der Versorgung ist – und wo sie schon vor 2019 berufsrechtlich kein Problem darstellte. In Deutschland standen dem damals die Berufsordnungen der Ärztekammern entgegen.
In dem BGH-Verfahren – hier die Mitteilung des Bundesgerichtshofs – ging es nicht um die Fernbehandlung per se, die von den Berufsordnungen der Ärztekammern seit 2019 in weiten Teilen ermöglicht wird. Es ging um einen simplen Werbe-Slogan von ottonova, nämlich: „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App“.
Nicht gerade ein Aufruf zur Weltrevolution. Aber die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs klagte dagegen. Sie witterte einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlung nach § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG). Das Landgericht München war ähnlich besorgt: Es gab der Klage im Juli 2019 statt, woraufhin ottonova beim Oberlandesgericht München eine Berufung anstrengte.
Nun wurde die ganze Sache allerdings dadurch verkompliziert, dass der Deutsche Bundestag im Laufe des Berufungsverfahrens den § 9 HWG als Teil der Jens-Spahn’schen Gesetzesmodernisierungen geändert hat, und zwar kurz vor der Pandemie, am 19. Dezember 2019. Zu diesem Zeitpunkt wurde ein das generelle Werbeverbot relativierender Satz eingefügt, dahingehend, dass ein Werbeverbot für Fernbehandlungen dann nicht gelte, wenn für die Behandlung nach „allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“. Trotz dieser Änderung hatte das Oberlandesgericht München die Berufung aber im Juli 2020 zurückgewiesen. Dagegen wiederum hatte ottonova Revision eingelegt, und das Ganze ging dann bis zum BGH, wo es jetzt abschließend verhandelt wurde – und zwar in Bezug auf sowohl die alte als auch die neue Fassung des § 9 HWG.
Bei der alten Fassung war die Sache aus Sicht des BGH relativ klar: Die Versicherung habe für Erkennung und Behandlung von Krankheiten geworben, die nicht auf eigener Wahrnehmung beruhen, da „eigene Wahrnehmung“ voraussetze, dass nicht nur Sehen und Hören, sondern auch Abtasten, Abklopfen etc. zur Verfügung stehen. Dies sei im Rahmen einer App- bzw. Videosprechstunde nicht möglich. Bis jetzt zumindest. In jedem Fall verstieß die Werbung damit gegen das HWG in seiner alten Fassung.
Der BGH ist nun aber, und das kommt für viele dann doch überraschend, der Auffassung, dass die oben genannte Formulierung auch gegen die neue Fassung des §9 HWG verstößt. Zwar sei mit der revidierten Fassung von §9 HWG die Werbung grundsätzlich erlaubt worden. Dies gelte allerdings nur dann, wenn „nach allgemeinem fachlichem Standard ein persönlicher Kontakt nicht erforderlich“ ist. Und genau diese Voraussetzung, so der BGH, sei bei dem ottonova-Slogan nicht erfüllt gewesen.
Die detaillierte Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, aber die aus BGH-Sicht offensichtlich entscheidende Frage scheint zu sein, wer den allgemeinen fachlichen Standard definiert und wie. Die Versicherung hatte die Auffassung vertreten, dass die Regelungen des für den behandelnden Arzt geltenden Berufsrechts maßgeblich seien. Da die Tele-Ärzte in der Schweiz sitzen und die rein telemedizinische Versorgung für ein breites Indikationsspektrum dort seit Jahren praktiziert wird und unumstritten ist, könne davon gesprochen werden, dass ein primärer persönlicher Kontakt nach allgemeinem fachlichem Standard nicht erforderlich sei.
Der BGH definiert den allgemeinen fachlichen Standard nun aber anders, nämlich über §630a Abs. 2 BGB. Das ist jener Paragraf, der die Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag regelt. Grundlage eines so definierten Standards sind Dokumente aller Art, die einen (primär nationalen) Versorgungsstandard setzen, also die Empfehlungen von Fachgesellschaften und auch zum Beispiel Richtlinien und Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschuss. Mit anderen Worten: Da wo qua Fachgesellschaft oder G-BA klar festgelegt ist, dass ein persönlicher Kontakt nicht erforderlich ist, darf mit Fernbehandlung geworben werden – aber nur da, nicht pauschal. Der BGH im Wortlaut:
„Die Beklagte [ottonova] hat für eine umfassende, nicht auf bestimmte Krankheiten oder Beschwerden beschränkte ärztliche Primärversorgung (Diagnose, Therapieempfehlung, Krankschreibung) im Wege der Fernbehandlung geworben. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, dass eine solche umfassende Fernbehandlung den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemeinen fachlichen Standards entspricht. Da die Beklagte dies auch nicht behauptet hatte und insoweit kein weiterer Sachvortrag zu erwarten war, konnte der Bundesgerichtshof abschließend entscheiden, dass die beanstandete Werbung unzulässig ist.“
Begeisterung löst das BGH-Urteil in der Digital Health Branche nicht aus. Einer, der sich sehr enttäuscht äußert, ist Nico Hribernik, Mitgründer von Wellster, mit über 1,5 Mio. Patientenkontakten einer der größten Anbieter für digitale Gesundheit in Deutschland. Er sieht jetzt nicht zuletzt Karl Lauterbach in der Pflicht: „Das heutige Urteil zeigt leider sehr deutlich, welche Aufgabe von unserem neuen Gesundheitsminister gemeistert werden muss: Es gilt, die systematischen Schranken der Digitalisierung endlich abzubauen“, so Hribernik gegenüber DocCheck. „Nur wenn digitale und analoge Medizin ineinandergreifen, können wir Menschen einen verbesserten Zugang zu ärztlicher Behandlung bieten und die Unterversorgung lösen. Es ist doch völlig klar, dass wir beides brauchen. Aber dann müssen wir eben auch dafür sorgen, dass beide ihre Stärken ausspielen können.“
Von Seiten der Ärzteschaft gibt es bisher keine Reaktionen auf das BGH-Urteil. Wenig überraschend enttäuscht äußerte sich gegenüber DocCheck der ottonova-Gründer und CEO Roman-Marcus Rittweger. Natürlich könne das Unternehmen in Zukunft mit angepasstem Wording und Warnhinweisen weiter auf die digitalen Arztbesuche hinweisen. Als Maulkorb betrachtet Rittweger das Urteil nicht. Für ihn ist es eher ein Symptom für eine Grunderkrankung des Gesundheitsstandorts Deutschland, für dessen fehlende Digitalisierung:
„Was zeigt uns das Symptom? Dass Werbung für eine Dienstleistung, die sich in der Pandemie als extrem nützlich erwiesen hat, jahrelang nicht gesetzlich geregelt ist und Innovatoren sich mit Gerichtsverfahren herumschlagen müssen! Genau deswegen haben viele große Krankenversicherer diese Dienstleistung lange nicht angeboten, obwohl sie deren Nützlichkeit erkannt hatten. Es verweist auf die Krankheit, dass wir in der Digitalisierung im Gesundheitswesen noch viel zu langsam unterwegs sind. Hier habe ich die Hoffnung, dass Karl Lauterbach auf den ersten Schritten von Jens Spahn aufbaut und nochmal deutlich Gas gibt. Denn nur so können wir die Kosten in der Zukunft im Griff halten, wenn wir nicht das Leistungsspektrum eingrenzen wollen.“
Für Rittweger ist die digitale Sprechstunde bei ottonova ein Musterbeispiel für die Kraft durch Innovation: „Aus dem Wettbewerb innerhalb der PKV und mit der GKV wurde die Idee des digitalen Arztbesuches schon lange vor der Pandemie geboren und umgesetzt. Innovation entsteht oft so, aus dem Wettbewerb heraus, wenn sich jemand auch einmal etwas traut. Auf diese Erfahrungen muss die Politik aufsetzen und einen Rahmen schaffen, der Wettbewerb und Innovation zulässt.“ Auf Karlsruhe, das ist spätestens seit der Urteilsverkündung am 9. Dezember klar, kann sich das Gesundheitswesen dabei nicht verlassen. Selbst eine Gesetzeserweiterung, die explizit dazu gedacht war, innovativen Versorgungsformen zu helfen und Telemedizin zu ermöglichen, lässt sich durch Juristen zu einem Bremsklotz uminterpretieren.
Bildquelle: Dim Hou, unsplash.