Tetanustoxin – jeder kennt das hochpotente Nervengift. Doch was zum Tod führen kann, könnte bald gegen Muskelschwund eingesetzt werden. Das konnte nun ein deutsches Forscherteam zeigen.
Schlaganfall, Multiple Sklerose oder Rückenmarksverletzungen zählen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, bei denen es durch eine Störung im zentralen Nervensystem zu dauerhaften Lähmungen und Muskelschwund kommen kann. Bisher gibt es für eine Behandlung kein wirksames Medikament. Der Schwerpunkt der Therapie liegt daher auf Physio- und Ergotherapie.
Um die Behandlungslücke schließen zu können, forschen Göttinger und Berliner Wissenschaftler um den Neurologen Prof. David Liebetanz, Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), seit etwa zehn Jahren an einer neuartigen medikamentösen Therapie. Im Fokus steht dabei das hochgiftige Tetanustoxin, bekannt als Auslöser von Wundstarrkrampf.
Jetzt ist den Forschern ein wichtiger Meilenstein in Richtung klinischer Anwendung gelungen. Gemeinsam mit den Berliner Kooperationspartnern, führten Liebetanz und sein Team eine placebo-kontrollierte und doppelt-verblindete Studie an Hunden durch, die auf Grund eines Bandscheibenvorfalls an einer Querschnittlähmung litten. Die Forscher konnten anhand ihrer Ergebnisse erstmals nachweisen, dass Tetanustoxin den Muskelschwund bei Querschnittlähmung deutlich verbessern kann.
Die Idee, das eigentlich hochgiftige Tetanustoxin als mögliche Therapie für Lähmungen zu nutzen, geht auf den moldawischen Neurologen Boris Sharapov zurück. Sharapov berichtete in der Zeit des Zweiten Weltkriegs von drei durch Schüsse verwundeten Patienten, zwei mit Querschnittlähmung und einem mit einer Halbseitenlähmung.
Alle drei entwickelten zufällig auch eine Tetanusinfektion. Hierbei produziert das Bakterium Clostridum tetani aus der infizierten Wunde heraus große Mengen Tetanustoxin. Dies führt zu mehr oder weniger den ganzen Körper betreffenden Muskelkrämpfen, dem sogenannten Wundstarrkrampf. Im weiteren Verlauf kam es bei Sharapovs Patienten sowohl zu einer Zunahme des Muskeltonus als auch zu aktiven Bewegungen in den zuvor gelähmten Gliedmaßen. Nach wenigen Tagen stellte Sharapov fest, dass der halbseitig gelähmte Patient keinerlei Lähmungen mehr zeigte. Aus seinen Beobachtungen dieser zufälligen Tetanusinfektionen schloss er, dass das Tetanustoxin die noch erhaltenen Nervenzellen positiv stimuliert haben muss. In seinem Bericht von 1946 postulierte Boris Sharapov eine mögliche therapeutische Verwendung des Tetanustoxins.
„Heute wissen wir, dass Tetanustoxin, wenn wir es in den Muskel injizieren, hemmende Nervenzellen auf Rückenmarksebene ausschaltet. Dadurch werden motorischen Nervenzellen wieder aktiviert, die die betroffene Muskulatur direkt ansteuern. Auf Grundlage dieser einzigartigen Wirkungsweise lässt sich eine Zunahme der Muskelmasse von zuvor gelähmter Muskulatur erzielen", sagt Dr. Anna Kutschenko, eine Erst-Autorin der Publikation.
25 querschnittgelähmte Hunde wurden für die Studie über eine Annonce in einem Journal für Hundebesitzer zur Teilnahme nach Göttingen eingeladen. Neben umfangreichen klinischen Tests wurde bei den Hundepatienten eine sonographische Messung der Muskeldicke durchgeführt. „Vier Wochen nach der Injektion von Tetanustoxin in die vom Muskelschwund betroffene Muskulatur ergab die erneute Messung eine deutliche Zunahme der Muskeldicke im Vergleich zu den mit Placebo injizierten Hunden", sagt Dr. Anja Manig, ebenfalls Erst-Autorin der Publikation und Ärztin in der Klinik für Neurologie der UMG.
Erstmals konnten die Göttinger und Berliner Forscher mit dieser Studie nachweisen, dass sich mit Tetanustoxin der ausgeprägte Muskelschwund bei Querschnittlähmung deutlich verbessern lässt. „Es ist das erste Mal überhaupt, dass mit einer medikamentösen Behandlung ein Muskelaufbau bei gelähmten Muskeln erzielt werden konnte", sagt Prof. David Liebetanz, Leiter des Projekts und Senior-Autor der Publikation. „Obwohl Tetanustoxin eine hohe Ähnlichkeit mit Botulinumtoxin aufweist, wirkt es genau gegenteilig. Während Botulinumtoxin zu Lähmung und Muskelatrophie führt, bewirkt Tetanustoxin eine Zunahme des Muskeltonus und der Muskelmasse", so Liebetanz.
Bisher ist Tetanustoxin noch nie zur Behandlung beim Menschen eingesetzt worden. Vor diesem Schritt wird das Forscher -Team aus Göttingen und Berlin noch einige Untersuchungen durchführen. Diese betreffen vorwiegend die Sicherheit und die Dosierung des Nervengifts beim Menschen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Georg-August-Universität Göttingen. Die Originalpublikation findet ihr hier und im Text.
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