Seit zwei Tagen sinkt in Deutschland die Inzidenz leicht – aber ist der Abschwung echt? Oder sind Labore und Ämter schlichtweg am Limit? Eine Einschätzung über die Lage in Europa.
Dass Intensivpatienten in Bundeswehrflugzeugen verlegt werden und in großem Maßstab elektive Operationen verschoben werden müssen, das sind Dinge, die will niemand sehen in einem Gesundheitswesen eines Industrielandes. Insofern ist die gestrige Entscheidung, am morgigen Donnerstag (02. Dezember 2021) einen Corona-Entscheidungs-Gipfel unter Beteiligung von aktueller und künftiger Bundesregierung sowie Ministerpräsidenten der Bundesländer durchzuführen, keine Überraschung. Man könnte auch sagen, sie ist ziemlich überfällig.
Was in den letzten Monaten versäumt wurde, ist kein Geheimnis: Die Impfquote ist vor allem bei den älteren Menschen zu niedrig, weswegen die Krankenhäuser am Limit sind. Kostenlose Bürgertests wurden abgeschafft, weil Theoretiker meinten, dass kostenpflichtige Tests eine gute Erziehungsmaßnahme für Impfskeptiker sein könnten – was eine ziemliche Fehleinschätzung war. Dazu die recht deutschlandspezifische Fetischisierung von 2G zu einer Infektionskontrollmaßnahme, die sie nicht in dem Ausmaß ist, wie es hier zu Lande selbst dann noch kommuniziert wurde, als internationale Daten längst in eine andere Richtung wiesen. Anders formuliert: 2G als Mittel, die Impfquote zu steigern, wurde nicht konsequent genug umgesetzt. 2G ohne „Plus“ als Inzidenzbremse wurde schlicht überschätzt.
Nun verlaufen Epidemien schon immer wellenartig, sodass sich aktuell die Frage stellt, wo in der laufenden Welle wir uns befinden. Ein Kriterium, das herangezogen werden kann, ist die Positivquote. Sie hängt neben der Wellendynamik auch stark vom Testverhalten und im oberen Grenzbereich dann von den Testkapazitäten bzw. der Auslastung der Labore ab. Insofern ist sie kein ganz unproblematischer Parameter. Am gestrigen Dienstag hat die Arbeitsgemeinschaft der Labore in der Medizin ALM e.V. die aktuelle Quote, das heißt jene in KW47, veröffentlicht. Sie lag bei 21,2 %, nach 19,9 % in der Vorwoche und 17,3 % in der Vorvorwoche.
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Die Auslastung der PCR-Kapazität beträgt dabei relativ konstant 85 %, wobei es regional erhebliche Unterschiede gibt. In einigen Bundesländern sind die Labors, wie die ALM es gestern formuliert hat, „schlichtweg an den Grenzen des Leistbaren“.
Insgesamt gibt die Positivquote keinen Hinweis auf eine Entspannung der Lage. Dass sie prinzipiell noch deutlich höher steigen kann, illustriert Sachsen, wo sie die 30-Prozent-Marke zwischenzeitig deutlich überschritten hatte. Allerdings ist die Positivquote auch nicht der früheste Indikator, der anschlagen würde, wenn es bergab ginge. Die Inzidenz eilt ihr etwas voraus, und an der Inzidenzfront tut sich derzeit ein bisschen was.
Die Dynamik bei den Neuinfektionen lässt schon eine Weile nach. Ablesbar ist das in den RKI-Statistiken am R-Wert und am Parameter Änderung der 7-Tage-Inzidenz:
Seit ein paar Tagen gibt es nun auch – bleiben wir zunächst in Deutschland – Hinweise auf eine tatsächliche Stagnation bei den täglichen Inzidenzen. Mancher redet sogar schon von einer gewissen Abnahme.
Dem steht natürlich die Laborauslastung gegenüber: Es könnte sein, dass das Plateau als Folge der Überlastung der PCR-Kapazitäten sowie der Überlastung der Gesundheitsämter ein artifizielles ist. Genaueres werden wir hier erst in einigen Tagen wissen. Eindeutig keine Entspannung gibt es bisher auf den Intensivstationen, und der Parameter Krankenhauseinweisungen hilft auch nicht weiter, da der nach wie vor zu stark hinterherhinkt.
Nun ist die aktuelle Welle keine deutsche, sondern eine paneuropäische oder zumindest ost-/mitteleuropäische Welle. Es gibt deswegen gute Gründe, sich auch die anderen Länder anzusehen. Und da finden sich mittlerweile doch deutliche Hinweise auf eine Plateaubildung oder sogar auf Inzidenzrückgänge. Das betrifft sowohl Länder, die drastische Maßnahmen ergriffen haben, Stichwort Österreich, als auch Länder, die eher wenig geändert haben. Und es betrifft vor allem nicht nur klassische Hochinzidenzländer, in denen mit „Laborüberlastung“ argumentiert werden könnte. Hier ein Überblick, basierend auf dem Datensatz von Our World in Data:
Mit Blick auf die politische Entscheiderkonferenz am morgigen Donnerstag in Deutschland stellt sich natürlich die Frage, ob und wenn ja wie diese in jedem Fall noch sehr fragile Entwicklung eingepreist werden sollte. Aus Sicht des Gesundheitssystems und insbesondere der Krankenhäuser ist Abwarten keine Option. Kontaktreduzierung ist das Gebot der Stunde, es ist eher die Frage, wie stark gebremst werden muss. Anders formuliert: Müssen Geimpfte mitbremsen? Dass die politische Antwort auf diese Frage nicht besonders einfach ist, ist jedem klar.
Vor allem aber zeigt die derzeitige Entwicklung – so sie denn anhält – einmal mehr den Wellencharakter der Pandemie. Das Bild der unaufhaltbaren Monsterwelle, die so lange anhält, bis der letzte nicht infizierte Mensch „am Ende des Winters“ infiziert (oder tot) ist, führt in die Irre. Auch starke Wellen sind Wellen, die komplexen Dynamiken gehorchen. Das plausibelste Szenario ist, dass es weitere Wellen geben wird, mit Delta, Omikron oder welchen Virusvarianten auch immer.
Deswegen sind neben der akuten Eindämmung vor allem langfristig wirksame Maßnahmen gefragt. Die Erhöhung der Impf- und Boosterquote steht dabei klar im Vordergrund. Aber wir sollten auch nicht noch einmal ohne breit zugängliche Schnelltests in eine Welle hineinrennen. Sie sind keine Pandemie-Therapie, aber sie sind erwiesenermaßen eine wirksame Maßnahme, um Wellenberge abzuflachen. Und das dürfte auch 2022 noch nötig bleiben, bis es dann irgendwann nicht mehr nötig ist.
Bildquelle: Mads Schmidt Rasmussen, Unsplash