Fünf Studien wurden von Medizinern im letzten Jahr besonders häufig gelesen. Es geht um die Themen Demenz, Hypertonie, Diabetes, Brokkoli und Paracetamol. Fest steht, die Studien wurden viel gelesen. Die Frage ist: Wie aussagekräftig sind sie?
Bei der bekanntesten Datenbank für registrierte klinische Studien clinicaltrials.gov sind zur Zeit mehr als 264.000 Studien verzeichnet. Für Mediziner ist es unmöglich, den Überblick zu behalten. Auch deshalb, weil es vorkommt, dass schlecht durchgeführte Studien in renommierten Zeitschriften veröffentlicht werden. Wie sieht es also mit den beliebtesten Studien 2017 aus? Laut Univadis wurden folgende 5 Studien im letzten Jahr am häufigsten gelesen. DocCheck hat die Publikationen zusammengefasst und bewertet.
Weltweit nimmt die Zahl an Patienten mit Demenzerkrankungen zu. Eine 24-köpfige Expertengruppe um Gill Livingston vom University College London verfolgt deshalb mehrere Ansätze. Sie arbeiten mit mathematischen Modellen der Risikomodellierung, um festzustellen, mit welchen Trends zu rechnen ist. Waren im Jahr 2015 etwa 47 Millionen Menschen von unterschiedlichen Demenzen betroffen, könnte sich die Zahl bis 2050 verdreifachen. Während derartige Simulationen immer mit großen Unsicherheiten verbunden sind, liefert Livingstons Blick in die wissenschaftliche Literatur deutlich handfestere Aussagen. Ähnlich wie beim Leitlinienprozess hat sein Team evidenzbasierte Empfehlungen zur Frage erarbeitet, wie sich Demenzerkrankungen vermeiden lassen. An erster Stelle stehen Lebensstil-Faktoren:
© Livingston et al. „Dadurch könnten zwei von drei Demenzfällen vermieden werden“, schreibt Livingston. Und Lon Schneider von der Keck School of Medicine der USC ergänzt: „Der Einfluss dieser Faktoren auf die Demenz ist größer als jede erdenkliche medikamentöse Therapie, die derzeit erforscht wird.“
Die Forscher greifen vor allem auf Kohortendaten zurück. Sie können keine Kausalität beweisen. Es gibt allerdings mehrere Argumente für ihre Ergebnisse. Gelingt es unterschiedlichen Wissenschaftlern, Ergebnisse zu reproduzieren, werden große Zahlen an Probanden eingeschlossen und zeigt sich bei Interventionen eine „Dosis-Wirkungs-Beziehung“, spricht viel für die richtige Fährte. Genau das ist hier der Fall. Hier der Link zur Studie.
Mit aktuellen Fragen zur Prävention befasste sich auch Joshua D. Bundy von der Tulane University School of Public Health and Tropical Medicine in New Orleans. Sein Thema ist nicht ohne Brisanz: Der Forscher wollte wissen, welche systolischen Blutdruckwerte sich eignen, um kardiovaskuläre Risiken zu minimieren. Im Rahmen seiner Metaanalyse identifizierte er 42 randomisierte klinische Studien mit insgesamt 144.220 Patienten. „Das geringste Risiko lag bei systolisch 120 bis 124 mmHg“, fasst Bundy zusammen. Für diesen Bereich ermittelte er unterschiedliche Hazard Ratios (HR). Damit ist die Wahrscheinlichkeit gemeint, mit der ein Patient innerhalb der Nachbeobachtungszeit von durchschnittlich 3,7 Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis hat.
Die Ergebnisse lassen sich methodisch nicht angreifen. Auch in einem größeren Kontext haben sie Bestand. Zuvor hatte die SPRINT-Studie gezeigt, dass Patienten von systolisch 120 mmHg profitieren. US-Fachgesellschaften haben daraufhin in ihrer Leitlinie den Grenzwert des systolischen Blutdrucks, ab dem eine Hypertonie vorliegt, von 140 auf 130 mmHg gesenkt. Der Grenzwert für den diastolischen Blutdruck wurde von 90 auf 80 mmHg verringert. Über Nacht wurde fast jeder zweite Amerikaner zum Hypertoniker. Hier zu Lande äußern sich Fachgesellschaften eher zurückhaltend. Bernhard Krämer von der Deutschen Hochdruckliga sagt, eine Absenkung des Blutdruckgrenzwertes auf unter 130/80 mmHg könne Betroffene sensibilisieren, Lebensstiländerungen rechtzeitig vorzunehmen. „Andererseits werden durch eine Absenkung der Blutdruckgrenzwerte deutlich mehr Menschen als bisher als Patienten eingestuft. Es liegen bislang jedoch keine Beweise dafür vor, dass die medikamentöse Blutdrucksenkung für die allermeisten Menschen mit hochnormalen Blutdruckwerten positive Effekte hat.“ Hier der Link zur Studie.
Ärzte interessieren sich nicht nur für Hypertonie, sondern auch für Übergewicht und Adipositas. Das Thema steht mit zwei inhaltlich nicht trennbaren Studien auf dem dritten Platz. Jun Zou von der Georgia State University und Bjoern O. Schroeder von der Universität Göteborg gingen der Frage nach, welchen Effekt Ballaststoffe bei Diäten auf den Darm von Mäusen haben. Ihre Arbeiten liefern interessante Erkenntnisse, können aber nicht beantworten, ob sich alle Befunde tatsächlich auf Menschen übertragen lassen. Veränderungen des Dickdarms und der Darmbakterien durch eine westliche Diät und durch Inulin bzw. durch Bifidobakterien © Schröder et al. Beide Forscherteams fütterten keimfreie Mäuse mit einer extrem faserarmen, ballaststoffreduzierten Kost, die klassischem Fast Food ähnelt. Bei den Nagern ging das Gewicht nach oben, der Blutzuckerwert stieg an, und es kam zur Insulinresistenz. Drei bis sieben Tage nach Studienbeginn veränderte sich die schützende Mukosa im Darm. Sie wurde dünner, und Bakterien konnten auf Epithelzellen übergreifen. Gleichzeitig verschob sich das Mikrobiom in Richtung unerwünschter Bakterien. Stuhltransplantationen oder Bifidobakterien hatten wünschenswerte Effekte auf das Mikrobiom und auf die Schleimhaut, verhinderten aber nicht die Penetration schädlicher Keime. Erhielten die Nager Inulin, also ein Gemisch aus Polysacchariden, das u.a. in Chicorée vorkommt, vermehrten sich protektive Bakterien. Außerdem stellten Darmzellen vermehrt Interleukin-22 her. Das Zytokin steht mit dem Überleben und der Proliferation von Darmepithelzellen in Verbindung. Einige Stoffwechselparameter verbessern sich ebenfalls.
Die Forscher folgern aus ihrer Studie, dass selbst fettreiche Diäten Ballaststoffe enthalten sollten. Inwieweit ihre Resultate für Patienten gelten, lässt sich derzeit nicht beantworten. Hier der Link zur Studie.
Ebenso interessierten sich Ärzte für Effekte von Paracetamol bei Schwangeren. Das Analgetikum wird vom ersten bis zum dritten Trimenon empfohlen. Lars Bremer, ein Forscher am UKE Eppendorf, hat im Rahmen der PRINCE-Studie (Prenatal Determinants of Childrens Health) Daten von 518 Frauen ausgewertet. 47 Prozent nahmen mindestens einmal in der Schwangerschaft Schmerzmittel ein. Dabei griffen 86 Prozent zu Paracetamol. Das Pharmakon war mit einer geringeren Zahl hämatopoetischer Stammzellen im Nabelschnurblut assoziiert.
Eine Kohortenstudie kann keine Kausalitäten per se belgen, aber sie bietet oftmals wichtige Grundlagen. Welche Bedeutung Bremers Resultate haben, ist ungewiss. Stammzellen differenzieren sich unter anderem zu Immunzellen. Forscher können zu den Folgen derzeit nur Vermutungen anstellen: Zu niedrige Zahlen könnten allergische Erkrankungen forcieren. Hier der Link zur Studie.
Mit einer weiteren Volkskrankheit befasste sich Annika S. Axelsson, Forscherin am Lund University Diabetes Center in Malmö. Sie untersuchte im Labor mit Substanzbibliotheken, welche Moleküle die Expression von Diabetes-assoziierten Genen veränderten. Überraschenderweise zeigte Sulforaphan wünschenswerte Eigenschaften. Der sekundäre Pflanzeninhaltsstoff aus Brokkoli verringerte die Expression von Schlüsselenzymen der Gluconeogenese. Außerdem wurden die Glukoseproduktion und Glukoseintoleranz um ein Maß verringert, das der Wirkungsweise von Metformin ähnlich ist. Nun haben In-vitro-Studien ihre bekannten Schwächen. Zellen reagieren nicht unbedingt wie ein komplexer Organismus. Deshalb schloss sich eine zwölfwöchige randomisierten, placebokontrollierte Studie mit 97 Typ 2-Diabetikern an. Sie erhielten einen Extrakt aus Brokkolisprossen oder Placebo. Unter Verum kam es zu signifikant niedrigeren Nüchternblutzuckerspiegeln.
Das sind methodisch hochwertige, interessante Resultate. Bleibt zu kritisieren, dass Axelsson mit wenigen Patienten gearbeitet hat. Auch die Studiendauer ist, freundlich formuliert, überschaubar. Hier der Link zur Studie.