Transkulturelle Psychiatrie beschäftigt sich mit der Beschreibung und Analyse von psychischen Bedingungen, Verlaufsprozessen und Wirkungen menschlichen Erlebens und Verhaltens in Situationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen aufeinandertreffen. Sie untersucht die kulturellen Aspekte der Entstehung, Häufigkeit, Form und Therapie psychischer Störungen.1
Transkulturell liegt ein Kulturbegriff im Sinne von geteilten Bedeutungsräumen zugrunde. Kulturen sind hier keine abgeschlossenen Einheiten, sondern es wird von stetigen Vermischungsprozessen ausgegangen. Im Vordergrund steht der prozesshafte hybride Charakter einer Kultur.2
Man spricht auch von Kultursensitiver Psychiatrie oder Psychotherapie. 3
Allgemein kann transkulturelle Psychiatrie auch als Teil der – > Migrantenmedizin verstanden werden.
Verschiedene Theorien und Modelle spielen für die transkulturelle Psychiatrie eine hilfreiche Rolle:
- Interkulturelle Kompetenz:
meint hier die Fähigkeit, effektiv mit Menschen, die über andere kulturelle Hintergründe verfügen, umzugehen und zusammenzuarbeiten, wobei dies auf beiden Seiten als gelungene interkulturelle Kommunikation empfunden werden sollte.1
Grundsätzlich werden in der transkulturellen Psychiatrie allgemeingebräuchliche psychotherapeutische Konzepte und Methoden angewendet, wie die drei therapeutischen Basiskompetenzen nach Rogers. Diese werden aber um kultursensitive Aspekte erweitert.
Kultursensitivität meint hier eine gesteigerte Reflexionsbereitschaft und kritische Haltung gegenüber der eigenen Arbeit und den eigenen Haltungen und Ansichten. Gleichzeitig aber auch eine Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber den Anliegen und Perspektiven der Patienten.2
Siehe hierzu auch:
→ Das Säulenmodell der interkulturellen Kompetenz nach Sue & Sue:
Sowie zu weiterführenden theoretischen Überlegungen:
→ Rolle von Status und Machtgefälle im transkulturellen Setting
→ Theorie der sozialen Identität von Tajfel und Turner
→ Diversity-Ansatz
Diagnostik
Psychiatrische Erkrankungen weisen je nach Personengruppe und deren gesundheitlicher Belastung (z.B. Flucht, potentiell traumatische Erlebnisse usw.) eine abweichende Inzidenz bei Migrant/-innen, im Vergleich zu der bestehenden Bevölkerung auf. 34
Dies, aber auch dass bei der Diagnosestellung transkulturelle Faktoren, wie Missverständnisse und Vorurteile seitens des/der Therapeuten/in eine Rolle spielen, lässt sich am Beispiel der Diagnose „Schizophrenie“ zeigen:
Laut aktueller Studienlage erkranken MigrantInnen ca. 2,9-mal häufiger an einer Schizophrenie, als die Bevölkerung im Ankunftsland. 5 Als Ursache wird gesteigerter Stress und in diesem Zusammenhang ein erhöhter Dopaminspiegel diskutiert, da dieser nach der „Dopamin-Hypothese“ im Zusammenhang mit der Entstehung einer Schizophrenie stehe. 6
Dass die Diagnose „Schizophrenie“ bei MigrantInnen viel häufiger, als in der Vergleichspopulation zu finden ist, liegt aber auch an Fehldiagnosen, die sich durch kulturelle Unterschiede ergeben:
So können zum Beispiel dem Therapeuten/der Therapeutin fremde, evtl. wahnhaft/halluzinatorisch erscheinende Wahrnehmungen der Patientin/des Patienten, wie die eines verstorbenen Verwandten, eines Dschins oder von anderen Erscheinungen im entsprechenden kulturellen Kontext alltäglich oder Symbole einer psychischen Belastung sein, ohne dass ihnen tatsächlich der Stellenwert einer Positivsymptomatik im Sinne einer Schizophrenie zukommt.
Haasen und Kollegen (2000) untersuchten aufgrund der höheren Schizophrenieraten in einigen Migrantenpopulationen, welchen Einfluss Fehldiagnosen hier hatten.
Sie verglichen daher die Diagnosen von deutschen und türkischen Patienten, die sowohl von einem deutschsprachigen als auch von einem türkischsprachigen, bilingualen Assistenzarzt untersucht wurden. Hierbei ergab sich, dass die Untersucher bei 4 % der deutschen Patienten zu einem unterschiedlichen Ergebnis kamen, bei den türkischen kam es aber bei 19 % der Patienten zu einer abweichenden Diagnose. Als Gründe hierfür vermuteten die Autoren kulturelle Differenzen in der Symptomschilderung, fehlende interkulturelle Kompetenzen der deutschen Ärzte (z.B. Fehlinterpretation beim Übergang Glaube-Wahn (s.o.)), Fehlinterpretationen kulturspezifischer Symptomschilderungen und mögliche Diskriminerungstendenzen. 7
Um Fehldiagnosen aufgrund von kulturellen Unterschieden zu vermeiden, bietet es sich an, auf hierzu entwickelte Diagnoseunterstützungen zurückzugreifen.
Das
Cultural Formulation Interview ist eine solche.
Therapie
Grundsätzlich beruht die Therapie in der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie auf denselben Säulen, wie sie allgemein in der Psychotherapie zu finden sind (z. B. nach Rogers).8 Kulturspezifische Besonderheiten ergeben sich allerdings häufig, so zum Beispiel bei Patient/-innen, die in kollektivistisch orientierten Gesellschaften aufgewachsen sind.
So bestehen hier vielfach andere Erwartungen der PatientInnen an die Therapie, die es in einem ersten Gespräch zu eruieren gilt, um so besser auf diese eingehen zu können.
Eine große Rolle kommt in kollektivistisch orientierten Gesellschaften der Familie zu, sodass ein Eins-zu-Eins-Therapie-Setting für die PatientInnen ungewohnt sein kann. Es sollte hier besonders darauf geachtet werden, für eine angenehme, offene Atmosphäre zu sorgen und die PatientInnen nicht zu sehr in ihrer Erzählung, oder in der Personenzahlen, die sie zur Therapiesitzung begleiten, zu begrenzen, um so ein Vertrauensverhältnis aufbauen zu können.9
Weiterhin kann „Psychotherapie“ in der heutigen, westlichen Form der Patientin/dem Patienten weitestgehend unbekannt sein, sodass der Psychoedukation über die theoretischen Hintergründe westlicher Therapiekonzepte und dem Verständnis der Krankheitssicht des Patienten eine besondere Bedeutung zukommt. 10
Durch u. a. kulturelle Prägung kann es in der transkulturellen Psychotherapie vermehrt zu abweichenden Therapiezielvorstellungen kommen, so zum Beispiel wenn der/die durch Konzepte wie Individualismus und Selbstverwirklichung geprägte TherapeutIn (un)bewusst die Unabhängigkeitsbestrebungen des Patienten/der Patientin stärken möchte, dieser/diese aber wiederum soziozentrisch geprägte Ziele verfolgt (zum Beispiel das Ziel, sich mehr Zeit für die eigenen Hobbies zu nehmen versus wieder als Ernährer für die Familie da zu sein, als vornehmliche Therapiemotivation). 11
Da eine Übereinstimmung bei den Therapiezielen zwischen TherapeutIn und PatientIn sehr wichtig für den Therapieerfolg ist, kommt ein übereinstimmendes Verständnis hierüber eine entscheidende Bedeutung zu. 12
Im transkulturellen psychotherapeutischen Kontext ist weiterhin der Einsatz von Übersetzern von besonderer Bedeutung. Hierbei sind in jedem Fall menschliche, professionelle Dolmetscher Übersetzungsprogrammen vorzuziehen, da es bei letzteren vermehrt zu sprachlichen Ungenauigkeiten und Missverständnissen kommt.
Wichtig für die Wahl des Übersetzers ist, dass dieser möglichst kein Familienmitglied oder Freund des Patienten/der Patientin ist (z.B. wegen möglicher (Selbst-)Zensur oder Eigeninterpretationen durch den Dolmetscher, zum Beispiel um unangenehme Aussagen abzuschwächen).
Der Übersetzer sollte professionell ausgebildet sein. Aufgrund der vielfältigen interkulturellen Aufgaben, die bei der Übersetzung von Bedeutung sind, spricht man auch von einem/r Sprach-und Kulturmittler/in 13
Bei Verständnisproblemen sollte direkt kommuniziert werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Allgemein sollte möglichst immer derselbe/dieselbe Dolmetscher/in beim selben Patienten/in übersetzen, sodass ein Vertrauensverhältnis entstehen kann.14
Zu Therapiekonzepten bei Posttraumatische Belastungsstörungen:
siehe auch → Narrative Expositionstherapie
Zu weiterführenden Informationen siehe auch :
Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017
1Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 13-14
2Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 14
3http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/146035/migranten-haeufiger-psychisch-krank
4Siehe hierzu auch → „Resignation-Syndrom“
5https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/72508/Wieso-Migranten-und-ihre-Kinder-anfaelliger-fuer-eine-Schizophrenie-sind
6ebenda
7Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 42-44
8Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 47
9Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 47-48
10Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 49-50
11Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 50-51
12Rector, N. A., Zuroff, D. C. & Segal, Z. V. (1999). Cognitive change and the therapeutic alliance: The role of technical and nontechnical factors in cognitive therapy. Psychotherapy, 36 (4),
13https://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/auslaender-und-migranten/migration-und-integration/sprach-und-integrationsmittlung/
14Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 51- 53
1Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 8-9
2Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 5, 8-9
3Lersner, Ulrike von; Kizilhan, Jan Ilhan: Kultursensitive Psychotherapie 1. Auflage, 2017, Seite 9