Die Impfpflicht-Debatte geht in die heiße Phase. Auch die Grünen machen ernst – und sprechen von einem „milderen Mittel“ im Vergleich zu ständigen Lockdowns. Wie könnte eine Impfpflicht konkret aussehen?
Lange Zeit galt die Einführung einer Impfpflicht in Deutschland als unvorstellbar. Der einst breite Konsens gegen eine solche Maßnahme löst sich allerdings zusehends auf – jetzt mehren sich die Stimmen der Befürworter: Zuletzt hat sich der regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), für eine Impfpflicht ausgesprochen. „Ich glaube, wir werden um eine Impfpflicht nicht mehr drumrumkommen“, sagte er am Dienstagabend (23. November 2021) im rbb.
„Nur die Impfung sichert dauerhaft ab, dass wir alles so erleben können, wie wir es wollen. Die hohe Anzahl der Ungeimpften verhindert immer wieder diesen Schritt in die Normalität“, so Müller. Ähnlich sehen es mehrere Länderchefs: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier haben sich bereits für eine Einführung ausgesprochen.
Auch von den Grünen kommt jetzt ein eindeutiges Signal: Auf Twitter hat Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen, am Mittwochmorgen (24. November 2021) ein Statement Pro-Impfpflicht abgesetzt – unter bestimmten Bedingungen. Für sie stellt sich die Frage einer allgemeinen Impfpflicht; besonders mit Blick auf weitere Infektionswellen über den Winter hinaus.
„Eine allgemeine Impfpflicht bedeutet einen Eingriff in die Grundrechte jedes einzelnen Menschen“, sagte Göring-Eckardt der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Doch gegenüber stark die Freiheit der gesamten Gesellschaft betreffenden Maßnahmen wie wiederkehrende Lockdowns mit starken Kontaktbeschränkungen und gravierenden Folgen insbesondere für Kinder, aber auch ökonomischen Konsequenzen stellt eine Impfpflicht das mildere Mittel dar.“
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, zur Zeit ebenso Präsident des Bundesrates, will jetzt konkrete Schritte einleiten. Er hat angekündigt das Thema der allgemeinen Impfpflicht bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz auf die Agenda zu setzen.
Noch im November 2020 hatte die Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen, dass eine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 von Bund und Ländern abgelehnt wird. „Einer solch kategorischen Formulierung würde ich heute nicht mehr zustimmen, und sie ist auch nicht mehr zeitgemäß“, so Ramelow gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Es stellt sich die Frage: Wie müsste eine solche Impfpflicht gestaltet werden, um rechtlich legitim zu sein und bestmöglich von der Bevölkerung akzeptiert zu werden? Das Science Media Center Germany hat dazu die Einschätzung von Fachleuten eingeholt, darunter der Medizinrechtler Prof. Josef Franz Lindner von der Universität Augsburg.
„Grundsätzlich halte ich eine Impfpflicht verfassungsrechtlich für zulässig – wenn sie darauf gerichtet ist, den Kollaps der Krankenhäuser zu verhindern“, sagt Lindner. Die Verfassung verbiete eine Impflicht nicht, wenn sie gut begründet sei. Allein die Verhinderung von Infektionen würde als Argument allerdings nicht ausreichen.
Lindner: „Die eigentliche Rechtfertigung liegt darin, dass eine große Zahl der Ungeimpften auf den Intensivstationen landet, dort die Lage prekär wird und Menschen, die kein COVID haben, kein Intensivbett mehr bekommen. Und um diese Situation zu verhindern, können wir eine Impflicht einführen.“
Aber: Ein verfassungsrechtliches Problem wäre eine Impfpflicht für alle. Hier müsste man fragen: Wen bezieht man mit ein? Der Adressatenkreis sei dann entscheidend. „Eine Impfpflicht für alle wäre verfassungsrechtlich sehr viel schwerer zu begründen als für bestimmte Gruppen.“ Die Frage sei, was der beabsichtigte Zweck ist. Wolle man erreichen, dass die Intensivstationen nicht überlastet werden, müsste man vor allem auf jene abzielen, die ohne Impfung typischerweise auf die Intensivstation kämen. „Und das könnten vor allem die über 60-Jährigen sein. Das müsste wissenschaftlich natürlich noch einmal evaluiert werden. Ü60 wäre dann ein tragfähiges Argument“, erklärt Lindner.
Eine Impfpflicht für alle würde bedeuten, dass auch Kinder und Jugendliche geimpft werden würden, von denen keine große Gefahr mit Blick auf die Intensivstationen ausgehe. Hier gebe es also keinen tragfähigen Grund. Der Kreis derer, die man in eine Impfpflicht einbeziehen müsste, müsste durch eine wissenschaftliche Analyse eruiert werden. „Also wie ist die Verteilung ungeimpfter COVID-Patienten auf den Intensivstationen? Diese Daten gibt es ja. Und diese Daten müsste man dann nach Gruppen typisieren und könnte für diese eine Impfpflicht vorsehen.“
Lindner hat einen Vorschlag, wie eine gemäßigte Version der Impfpflicht aussehen könnte: „Ein milderes Mittel wäre grundsätzlich die Impfpflicht für ein Jahr, um das Gesundheitssystem erst einmal zu beruhigen. Wahrscheinlich müsste man das auch in einem ersten Schritt machen und dann mit den Epidemiologen und Virologen die weitere Situation evaluieren.“
Für den Medizinrechtler ist Spahns Argument, dass man eine Impfpflicht nicht kontrollieren könne, ein vorgeschobenes. „Das macht man ja sonst auch nicht, dass man Regeln nicht einführt, weil man sagt, man kann ihre Einhaltung nicht kontrollieren.“ Wie zum Beispiel Straßenverkehr, wo auch nicht alle Regeln durchgängig kontrolliert werden können.
Er glaubt: Aus rechtspsychologischer Perspektive würde eine gesetzliche Impfpflicht mit einer Bußgeldandrohung als Sanktionsmöglichkeit schon einen erheblichen Sog zugunsten der Impfung bewirken.
„Wer sich auch davon nicht abschrecken lässt, den wird man allerdings nicht mit unmittelbarem Zwang der Impfpflicht zuführen können. Das würde ich verfassungsrechtlich für ausgeschlossen halten, dass man jemandem gegen seinen Willen die Spritze verabreicht“, so Lindner.
Wie stehen Angehörige medizinischer Berufe zur Debatte? Unsere Umfrage in der DocCheck Community zeigt: Von etwa 2.700 Befragten sprechen sich mehr als die Hälfte für eine generelle Impfpflicht aus (50,8 Prozent), gegen eine Impfpflicht sind 38,8 Prozent der Teilnehmer. Und etwa jeder Zehnte (10,4 Prozent) ist dafür, eine Impfpflicht nur für bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte, Pfleger oder Erzieher einzuführen.
An der nicht repräsentativen Umfrage nahmen mehr Frauen (58,2 Prozent) als Männer (39,7 Prozent) teil; über 90 Prozent der Befragten waren über 35 Jahre alt.
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