Die meisten Frühgeborenen haben zwar gute Überlebenschancen, die gesundheitlichen Konsequenzen können aber erheblich sein. Die Corona-Pandemie verschärft die Lage: Es werden mehr vorzeitige Geburten erwartet.
Die Grenze zur Lebensfähigkeit hat sich durch enorme Fortschritte in der Neonatologie ins zweite Trimenon verlagert. Nach etwas mehr als der Hälfte einer normalerweise 40-wöchigen Schwangerschaftsdauer sind die Chancen für einen Start ins Leben relativ gut. Was vor Jahren unvorstellbar schien, ist zum Alltag in Geburtshilfe und Neonatologie geworden. Daran hat die in den 1980er Jahren eingeführte Surfactant-Substitution zur Therapie der Lungenunreife einen wesentlichen Anteil. Von den sehr kleinen Frühgeborenen in der 23. bis 24. Schwangerschaftswoche überleben 60–80 %, ein Viertel bis ein Drittel erleidet jedoch unmittelbare neurologische Folgeschäden.
Wird ein Kind vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche geboren, gehört es zum Kreis der Frühgeburten, der weltweit rund 10 % aller Geburten ausmacht. Davon werden 10 % als sehr kleine Frühgeborene bezeichnet, da sie vor der 30. Schwangerschaftswoche und mit weniger als 1.500 g zur Welt kommen.
Neben organischen Beeinträchtigungen können später diagnostizierte Verhaltensstörungen und Teilleistungsschwächen auftreten, deren Grad mit jeder Woche der Unreife zunimmt. Der besondere schulische Förderbedarf nimmt von der 37. Schwangerschaftswoche abwärts zu und erreicht bei den kleinsten Frühgeborenen 50–60 %.
Prognostisch ist neben dem Grad der Unreife auch die Ursache der Frühgeburt von Bedeutung: Perinatale Infektionen erhöhen das Risiko für neurologische Folgeschäden. Bei intrauterinen Wachstumsrestriktionen kann ein späteres metabolisches Syndrom begünstigt werden.
Schwangere gehören zur Hochrisikogruppe, da sie ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe und ungünstige Schwangerschaftsausgänge haben. Die Anzahl an Frühgeburten bei Schwangeren mit einer SARS-CoV-2-Infektion ist erhöht. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe rät daher dringend zur Impfung von Schwangeren ab dem 2. Trimenon, einschließlich einer Boosterung.
Patientinnen mit Frühgeburtsbestrebungen in sehr frühen Schwangerschaftswochen haben einen hohen Beratungsbedarf und benötigen die Anbindung an ein Perinatalzentrum Level 1. Eine Lungenreifetherapie ist üblich ab 23 + 5 Schwangerschaftswochen, an speziellen Zentren auch früher. Die Eltern werden mittels eines Teams aus Geburtshelfern und Neonatologen ausführlich über die Möglichkeiten, aber auch zu erwartenden Komplikationen beraten. Selten wird von Seiten der Eltern auf eine Maximaltherapie vor Ort verzichtet, eine Verlegung in Spezialzentren in noch früheren Schwangerschaftswochen wird wenig in Anspruch genommen.
Ergänzend muss gesagt werden, dass die meisten der sehr kleinen Frühgeborenen heute erst ein mittleres Erwachsenenalter erreicht haben. Es ist offen, ob sich das aktuelle Risikoprofil im höheren Alter verstärken wird, da das Kompensationsvermögen nachlässt. Mangels ausreichender Nachbeobachtungszeit fehlen Angaben über Demenz- oder Tumorleiden.
Einige molekularbiologische Arbeiten berichten bei Erwachsenen mit Frühgeburtsanamnese über eine auffallende Verkürzung der Telomerlänge. Die Konsequenz wäre eine mögliche Voralterung auf zellbiologischer Ebene zusätzlich zu den aufgelisteten somatischen Komplikationen.
Hubert Messner, ehemaliger Chefarzt der Neonatologie Bozen, hat sich in seiner Biographie „Der schmale Grat“ eindrucksvoll mit dem ethischen Dilemma in der Neonatologie auseinandergesetzt. Selbst Vater eines zu früh geborenen Sohnes, besticht Messner durch Authentizität und hohe Fachkompetenz. Seine Bilanz lautet:
Eltern, die vielleicht lange auf eine Schwangerschaft gewartet haben, möchten, dass alles dafür getan wird, damit ihr zu früh geborenes Kind überlebt. Die Grenze zur Lebensfähigkeit hat sich Dank enormer Fortschritte in der Neonatologie weit nach unten verlagert. Beeinträchtigungen somatischer, psychischer und molekularbiologischer Art sind der Preis. Vieles kann heute noch gar nicht abgeschätzt werden, da die Nachbeobachtungszeit der sehr kleinen Frühgeborenen zu kurz ist.
Für Geburtshelfer und Neonatologen sowie für die weiterbetreuende Kinder- und Hausärzte stellt sich ein hoher Beratungs- und Nachbetreuungsbedarf. Für die Eltern und früh geborenen Patienten steht oftmals ein langer Weg an Diagnostik, Therapie und Förderung bevor.
Auf der einen Seite ist es ein großes Glück, dass schon so früh geholfen werden kann. Andererseits bleibt die Frage, wie weit und um welchen Preis die Grenzen weiter ausgereizt werden sollten.
Literatur und Quellen
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