Den deutschen Intensivstationen stehen harte Monate bevor. Die DIVI hat jetzt ihre Prognosen aktualisiert und beschreibt, wie die Verlegungskonzepte aussehen. Operation Kleeblatt steht an.
Seit bald 22 Monaten ist die deutsche Intensivmedizin im Pandemiemodus. Nicht durchgehend und nicht überall gleich stark, aber dass das Personal vielerorts nicht mehr kann, ist unübersehbar. „Viele Pflegekräfte haben aufgrund von Erschöpfung ihre Arbeitszeit reduziert oder den Beruf verlassen. Das führt dazu, dass wir aktuell rund 4.000 ITS-Betten weniger haben als vor einem Jahr“, sagte DIVI-Präsident Prof. Gernot Marx vom Universitätsklinikum Aachen bei einem Lagebericht der DIVI für Medienvertreter.
Dass die Situation regional unterschiedlich ist, ist kein Geheimnis: Akut überlastet sind derzeit Bayern, Sachsen und Thüringen sowie mit Einschränkungen Baden-Württemberg. Hier werde bereits in größerem Umfang innerhalb der Bundesländer verlegt, so Marx: „Wenn wir einen weiteren ungebremsten Anstieg bei den schwerkranken COVID-Patienten haben, dann wird das in den nächsten Tagen und Wochen in weiten Teilen Deutschlands nötig werden.“
Einen kurzen Einblick in die Situation in Berlin gab Prof. Steffen Weber-Carstens von der Charité. In Berlin hat man bereits in den Notfallmodus geschaltet und nicht dringliche Operationen reduziert. Dies geschehe, damit Kapazitäten sowohl für COVID-19-Patienten als auch für dringliche Eingriffe bei Nicht-Corona-Patienten zur Verfügung stehen: „Wir haben aktuell eine Priorisierung: Medizinisch vertretbare Eingriffe werden verschoben, um Kapazitäten zu schaffen.“ Konkret hat Berlin Stand heute (22.11.2021) 1.051 betreibbare Intensivbetten. Vor einem Jahr waren es noch knapp 1.300. Von den 1.051 Betten sind aktuell 89 frei belegbar und im Mittel kommen 25 Neuaufnahmen mit COVID-19 pro Tag dazu. „In Summe ist es in Berlin sehr eng, aber wir sind im Moment in der Lage, durch Umstrukturierung Kapazitäten zu schaffen und eine gesicherte Versorgung darzustellen.“
Prof. Christian Karagiannidis vom ECMO-Zentrum am Krankenhaus Köln Merheim der Universität Witten-Herdecke gab einen kurzen Überblick über die aktuellen Zahlen im DIVI-Intensivregister auf Bundesebene: „Es gibt einen ziemlichen Gradienten über Deutschland von Nordwesten nach Südosten.“ Konkret Bayern hat ein Allzeithoch bei der Belegung der Intensivstationen mit COVID-19-Intensivpatienten erreicht, dort liegt die Corona-Quote auf den Intensivstationen mittlerweile bei über 30 %. Nordrhein-Westfalen liegt bei 10 %, Berlin bei 18 %. Bundesweit wurden in der vergangenen Woche 1.887 COVID-19-Patienten neu auf Intensivstation aufgenommen, 689 verstarben. Damit sind aktuell 3.675 Patienten mit COVID-19 auf deutschen Intensivstationen, davon 51 % invasiv beatmet.
Noch nichts sagen kann Karagiannidis derzeit dazu, wie genau sich der Impfstatus auf den Intensivstationen verteilt und wie viele intensivpflichtige Patientinnen schwanger sind oder frisch entbunden haben. Diese Parameter würden jetzt mit erhoben und dann in Kürze auch über das DIVI-Intensivregister verfügbar gemacht. „Wir werden dazu gute Daten kriegen, aber wir brauchen noch ein bisschen Zeit“, so Karagiannidis.
Woran die doch deutlichen regionalen Unterschiede liegen, dazu gibt es verschiedene Thesen. Karagiannidis verwies primär auf die Impfquoten: „Die Unterschiede sind eng verknüpft mit der Quote an Erstimpfungen.“ Entsprechend rief DIVI-Präsident Marx dann auch nachdrücklich zu mehr Impfanstrengungen auf. „Wir müssen umgehend Strukturen schaffen, um flächendeckend Erstimpfungen und Booster-Impfungen zu ermöglichen. Und unsere dringende Bitte an die Politik ist, dass für den 9. Dezember zusätzliche Maßnahmen vorbereitet werden, um die vierte Welle zu beenden, wenn sich herausstellt, dass die Maßnahmen, die letzte Woche beschlossen wurden, nicht greifen.“
Die Gretchenfrage ist natürlich, wie es weitergeht auf den deutschen Intensivstationen. Prof. Andreas Schuppert, Leiter des Instituts für Computational Biomedicine an der RWTH Aachen und „Chef-Modellierer“ bei der DIVI, präsentierte die aktuellen Hochrechnungen. Sie berücksichtigen zum einen den Impfstatus und zum anderen die Delta-Dynamik, die sich bekanntlich deutlich von der Alpha-Dynamik vor einem Jahr unterscheidet. Schuppert skizzierte unterschiedliche Szenarien (s. Abbildung) je nach „Stopp-Inzidenz“, also jener Inzidenz, bei der es gelingt, der R-Wert bei 1 zu halten.
„Wenn wir die Inzidenzzunahme erst bei 600 stoppen, dann kommen wir in den Bereich der Belastung in der zweiten Welle. Ein Stopp auf dem derzeitigen Niveau bei einer Inzidenz von 400 würde zu einer intensivmedizinischen Gesamtbelastung führen, die deutschlandweit etwas unterhalb der dritten Welle und ein ganzes Stück unterhalb der zweiten Welle läge. Steigt die Inzidenz auf über 600, droht die bisher größte Intensivmedizinwelle überhaupt, doch daran will eigentlich niemand denken. Es wird in jedem Fall höchste Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, die die Infektionsdynamik effizient stoppen können“, so Schuppert.
Da unstrittig ist, dass die Versorgungslage in den nächsten Wochen nochmal deutlich angespannter wird, kommt Notfallszenarien eine große Bedeutung zu. Dabei geht es in erster Linie um die Verlegungen, so sie nötig werden. Das Stichwort hierbei lautet Kleeblattkonzept. Dabei wird Deutschland in die fünf „Kleeblätter“ Süd (BY), Südwest (BW, SL, HE, RP), Ost (BE, BB, SN, ST, TH), West (NW) und Nord (SH, NI, HH, HB, MV) eingeteilt.
Verlegungen innerhalb dieser Kleeblätter erfolgen selbstorganisiert. Erst wenn das nicht mehr geht, wird in andere Kleeblätter verlegt, wobei es dann für jedes Kleeblatt einen einheitlichen Anlaufpunkt gibt, der die Verlegungen koordiniert. Damit Patienten durch die Verlegungen nicht gefährdet werden, haben die Intensivmediziner außerdem „Empfehlungen für strategische Patientenverlegungen im Kleeblattkonzept“ ausgearbeitet. Dabei werden diverse Parameter definiert, die möglichst erfüllt sein sollten, um einen Patienten als verlegungsfähig ansehen zu können (s. Tabelle).
„In jedem Fall müssen wir jetzt alles geben“, so Marx. „Die Pandemie ist noch nicht vorüber, und es ist an der Zeit, alles zu tun, um die vierte Welle einzudämmen.“
Bildquelle: Richard Catabay, unsplash.