Ihr fragt euch, warum ein paar vermeidbare COVID-19-Patienten uns Intensivmediziner so sauer machen? Ich möchte euch mal erklären, warum es das „letzte Bett“ auf einer Intensivstation nicht gibt – und warum uns das alle was angeht.
Ich will euch mal etwas über das „letzte Bett“ erzählen. Das „letzte Bett“ auf der Intensivstation ist ein Mythos. Es gibt nämlich immer noch ein Bett.
Stellt euch eine Intensivstation vor. Alle Betten belegt. Der Einfachheit halber haben wir eine Intensivstation mit 4 Betten:
Bett 1: 80 Jahre, männlich, Prothesenwechsel mit erheblichem Blutverlust, braucht noch kreislaufunterstützende Medikamente, Mobilisation, Atemtraining u. v. m.
Bett 2: 50 Jahre, weiblich, Darmverschluss, braucht noch kreislaufunterstützende Medikamente, Flüssigkeit, Schmerztherapie u. v. m.
Bett 3: 50 Jahre, männlich, großer Herzinfarkt, wurde vor zwei Stunden im Katheterlabor mit Stents versorgt, muss „nur“ überwacht werden
Bett 4: 30 Jahre, männlich, Motorradunfall, Amputation eines Beines, schweres Schädel-Hirn-Trauma, beatmet, massiver Blutverlust, Bluttransfusionen, das volle Programm
Instinktiv habt ihr gerade etwas gemacht, was oft unter Triage zusammengefasst wird. Ihr habt priorisiert. Unstrittig, dass der Patient in Bett 4 (Polytrauma) wesentlich kränker ist, als die Patienten in Bett 2 und 3. Daraus resultiert also:
Bett 1 – orange Bett 2 – orangeBett 3 – gelbBett 4 – rot
Aber, alles easy, weil es sind ja alle versorgt.
Der OP ruft an. Bei der Lungen-OP kam es zu einer Verletzung einer großen Arterie. Der Patient kommt beatmet, die Blutung scheint zu stehen, er muss kontrolliert von der Beatmung entwöhnt werden. Der Hb-Wert ist kritisch niedrig, er wird noch viel Intensivtherapie benötigen. Vor allem ist der Patient beatmet.
Was viele nicht wissen: Keine Klinik ist zur Übernahme eines Patienten aus einem anderen Krankenhaus verpflichtet! Ist eine Versorgung nicht möglich, weil z. B. eine Hirnblutung vorliegt, eure Klinik aber keine Neurochirurgie hat, liegt der Fall etwas anders. Dann werden Patienten in der Regel übernommen – wenn die Zielklinik ein Bett hat. Sonst können diese auch die Übernahme ablehnen.
Eine Verlegung ist also keine Option, Nachbarkliniken haben keine Lungenchirurgie, die Uniklinik winkt ab, weil sie bereits voll ist. Der OP drängelt, ob sie hoch kommen können. Du hast kein Bett. Du überlegst – wen verlege ich?
Der Patient in Bett 3 ist stabil, Blutdruck gut, Herzfrequenz normal, atmet selbst, hat keine Kreislaufunterstützung. Aber er hat einen großen Herzinfarkt überlebt, hat frische Stents und ein hohes Risiko für erneute Herzrhythmusstörungen. Die Leitlinie sagt, er muss mindestens 24 Stunden überwacht werden. Keine Chance. Du brauchst ein Bett. Du verlegst den Patienten aus Bett 3, machst ein paar Anweisungen an die Pflege (Telemetrie organisieren, Beobachtungsbogen, engmaschige Verlaufskontrolle der Vitalparameter, Zimmer in Sichtweite der Stationskanzel) und trotzdem weißt du – das ist suboptimal.
Deine Station sieht jetzt wie folgt aus:
Bett 1 – orange Bett 2 – orangeBett 3 – rotBett 4 – rot
Der Betreuungsaufwand für die Pflegekräfte auf deiner Intensivstation hat sich soeben deutlich erhöht. Statt eines roten, zwei gelber und eines grünen Patienten habt ihr jetzt zwei Rote und zwei Orange. Ihr habt also ein Bett geschaffen, wo kein Bett mehr da war. Gab es also noch ein Bett?
Außerdem: Bleibt dieses Handeln folgenlos? Sicher nicht.
Es gibt einen Grund, warum Patienten nach einem Herzinfarkt überwacht werden sollen. Vielleicht geht es in diesem Fall gut. Der Patient stabilisiert sich, wird wenige Tage später in die Anschlussheilbehandlung entlassen. Bekommt dieser Patient in seinem Zimmer auf Station aber nun erneut Herzrhythmusstörungen, wird das erst mal niemand merken.
Ich erzähle den Fall, weil uns genau das passiert ist. Wir wurden mit dem Reanimationsteam zum Herzalarm auf die Normalstation gerufen. Der Patient wurde zunächst erfolgreich reanimiert, in der Folge zeigte sich aber ein ausgeprägter Hirnschaden und der Patient verstarb auf unserer Intensivstation. Um ein Bett für ihn zu haben, wurde natürlich jemand anders verlegt.
Das passiert ständig, viele hundert Male täglich auf Intensivstationen. Patienten, die „nur“ zur Schmerztherapie dort liegen, überleben auch auf der Normalstation. Dort haben sie dann vielleicht mehr Schmerzen und im besten Fall fühlen sie sich nur etwas schlechter versorgt. Durch zu viele Schmerzen husten sie aber auch nachweislich weniger, machen weniger Atemtraining, bekommen eher eine Lungenentzündung und haben im Schnitt ein höheres Risiko, erneut auf die Intensivstation zu müssen oder sogar an einer der Komplikationen (Lungenentzündung u. a.) zu versterben.
Wir können das Planspiel noch weiter treiben. Eine Intensivstation ist nie ganz voll, man kann sie immer noch voller machen. Indem die „gesündesten“ der Schwerkranken auf die Normalstation verlegt werden und durch noch Kränkere ersetzt werden.
Corona hat viele Pflegekräfte an die Grenze ihrer Belastbarkeit gebracht – und darüber hinaus. Wir haben in der ersten, zweiten und dritten Welle so viele gute Leute verloren, die kommen nicht mehr wieder.
Deshalb ist jetzt etwa 1 von 5 Intensivbetten, die wir in Deutschland Anfang 2020 noch hatten, nicht mehr betreibbar. Weil uns die Leute fehlen. Ohne eine gute Pflegekraft kann man keine Intensivmedizin machen.
Deshalb helfen uns auch keine ungelernten Hilfskräfte, wie es jetzt wieder suggeriert wird. Auf der Intensivstation geht es nicht darum, Tee zu kochen oder den Rücken einzucremen, sondern um eine hochkomplexe High-End-Medizin. Die Schaffung von Intensivkapazitäten ist ohnehin der falsche Ansatz in der Bewältigung der Pandemie. Es wird immer ein Nadelöhr bleiben und es gilt zu verhindern, dass wir in diese Notsituationen kommen.
Denn der Mangel an Intensivbetten schadet uns allen.
In unserem Fallbeispiel mussten wir noch kein Intensivbett für COVID-19-Patienten abgeben. Das ist aber aktuell der Fall. Ein Viertel unserer Intensivkapazität wird momentan von ihnen in Beschlag genommen. Diese Betten fehlen an anderer Stelle.
Und das betrifft uns alle – ob geimpft oder ungeimpft.
Bildquelle: Ante Samarzija, unsplash