In der Notfallmedizin wird ein akuter Herzinfarkt gemäß des MONA-Schemas behandelt: Morphin, Sauerstoff, Nitroglycerin und Acetylsalicylsäure. Nun bringen neue Empfehlungen der European Society of Cardiology die seit Jahrzehnten etablierten Therapiesäulen ins Wanken.
Stellen Sie sich vor, man nimmt einem Dermatologen sein Cortison weg, der Internist muss auf ACE-Hemmer verzichten und dem Anaesthesisten wird sein Propofol geklaut. Albtraum! Dieser wird nun Realität, zumindest für Notärzte. Laut aktueller Empfehlungen der European Society of Cardiology (ESC) gibt es einige Einschränkungen bei dem Einsatz von Nitroglycerin, Sauerstoff und Morphin.
MONA-BH bei AMI – schon mal gehört? Das sogenannte MONA-BH-Schema ist eine Eselsbrücke für die Therapie des akuten Koronarsyndroms (ACS). Die Abkürzungen stehen für die medikamentösen Therapiemaßnahmen Morphin, Sauerstoff, Nitrate, Acetylsalicylsäure, Betablocker und Heparin, die beim akuten Myokardinfarkt (AMI) eingesetzt werden sollen. Betablocker werden in neuen Empfehlungen beim ACS in die Verbannung geschickt. Das Akronym NOCHMAL erweist sich als treffender. Das N,O,H,M und A kennen Sie ja bereits. „C“ steht für Clopidogrel, „L“ für Lagerung oder Lyse. Die Empfehlungen für die prähospitale Versorgung von Patienten mit einem ST-Hebungsinfarkt (STEMI) haben sich nun dramatisch verändert und bringen die seit Jahrzehnten etablierten Therapiesäulen ins Wanken. Neu ist auch, dass der Rechtsschenkelblock (RSB) als STEMI-Äquivalent betrachtet wird, wenn der jeweilige Patient persistierende Ischämie-Symptome hat und die klinische Einschätzung für einen AMI sehr hoch ist. Die Leitlinien unterscheiden nun nicht mehr direkt zwischen Brust- und Extremitätenableitungen im EKG, sondern differenzieren die Grenze der signifikanten ST-Hebung an Geschlecht und Alter.
Jeder Patient mit einem ACS bekam vom Notarzt oder vom nicht-ärztlichen Rettungsteam bisher Nitroglycerin unter die Zunge gesprüht. Hilft es, hat der Patient einen Angina-pectoris-Anfall, hilft es nicht, hat er einen Infarkt, so die knappe Differentialdiagnose. Aber auch Infarktpatienten profitieren von einer Nitrogabe, so zumindest bisher gedacht. Nitrate senken den Blutdruck, die Nachlast und verursachen eine Art „Mikrolyse“, weil sie das Verklumpen von Thrombozyten verhindern. „Die routinemäßige Verwendung von Nitraten beim STEMI war in einer randomisierten kontrollierten Studie gegen Placebo nicht von Nutzen und wird daher nicht empfohlen“, so die knappe Begründung der ESC. Die Empfehlung basiert auf einer einzigen Studie, der ISIS-4-Studie. Diese umfasste zwar fast 60.000 Patienten, ist aber fast zwanzig Jahre alt. Warum die ESC nicht schon viel früher von der Gabe sublingualer Nitrate abgeraten hat, bleibt ein Rätsel. Substanzen mit einem so hohen First-Pass-Effekt wie Nitroglycerin müssten oral extrem hoch dosiert werden. Durch die sublinguale oder buccale Gabe wird der First-Pass-Effekt umgangen, was kinetisch von Vorteil ist. Nun rät die ESC statt zur sublingualen Gabe von Nitraten zur intravenösen Gabe: „Intravenöse Nitrate können während der akuten Phase bei Patienten mit Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz nützlich sein, vorausgesetzt, es liegt keine Hypotonie vor, kein Rechtsherz-Infarkt oder die Verwendung von Phosphodiesterase-Typ-5-Inhibitoren in den vorangegangenen 48 Stunden.“ Welche Studie stützt diese Empfehlung? Die Antwort lautet: keine! Erschwerend hinzu kommt, dass diese invasive Gabe von Nitroverbindungen für den Rettungsassistenten oder Notfallsanitäter tabu bleiben.
Eine schon etwas betagte Cochrane-Auswertung aus dem Jahr 2009 zeigt Belege für die Wirkung von Nitraten. Betablockern wurde kein Vorteil beim Myokardinfarkt attestiert. Dies entspricht genau dem Gegenteil der Aussagen seitens ESC. „Nitrate reduzieren die Sterblichkeit, wenn sie innerhalb von 24 Stunden nach Auftreten der Symptome eines akuten Myokardinfarkts verabreicht werden. Es gibt gute Beweise für das Fehlen eines Sterblichkeitsvorteils bei sofortiger oder kurzfristiger Behandlung mit Betablockern bei akutem Myokardinfarkt.“ Ein kardioprotektiver und mortalitätssenkender Effekt von präklinisch verabreichten Betablockern konnte in der EARLY-BAMI Studie nicht eindeutig gezeigt werden. Die Guidelines empfehlen dennoch die möglichst frühzeitige Gabe eines Betablockers bei hämodynamisch stabilen STEMI-Patienten. Allerdings sollte die Gabe nur von erfahrenen Klinikern erfolgen, da die Nebenwirkungen gerade bei Patienten mit einem beginnenden kardiogenen Schock fatal sein können.
Die Schmerzlinderung ist von größter Bedeutung, nicht nur aus Gründen des Komforts, sondern auch, weil der Schmerz mit einer sympathischen Aktivierung verbunden ist, die zu einer Vasokonstriktion führt und die Arbeitsbelastung des Herzens erhöht. Die in diesem Zusammenhang am häufigsten verwendeten Analgetika sind titrierte intravenöse (i.v.) Opioide (z.B. Morphin). Dies erkennt die ESC an und stützt damit einen etablierten Standard, um diesen gleich danach niederzureißen: „Der Morphingebrauch ist mit einer langsameren Aufnahme, einem verzögerten Wirkungseintritt und verminderten Effekten von oralen Thrombozytenaggregationshemmer wie Clopidogrel, Ticagrelor und Prasugrel verbunden, was zu einem frühen Therapieversagen bei anfälligen Personen führen kann“. Der Notarzt wünscht sich nun, Alternativen genannt zu bekommen, die bekommt er aber nicht. Abgesehen von Fentanyl gibt es kaum welche. Tilidin und Tramadol sind zu wenig potent. Morphin senkt von allen Opiaten am stärksten den Druck in der Lungenstrombahn, was beim ACS ein extremer Vorteil ist. Es nimmt dem Patienten auch das Gefühl der Atemnot. Nachteilig ist sicherlich der verzögerte Wirkungseintritt, aber die Vorteile überwiegen. Eine mögliche Alternative könnte auch Nalbuphin sein, was in Deutschland aber kaum verbreitet ist. Als Referenz für die Nachteile von Morphin werden zwei Studien genannt, eine davon ist 10 Jahre alt und verzeichnet ein schlechteres Outcome bei der Gabe von Morphin beim ACS. Bei einer Patientenzahl von fast 150.000 Patienten sicherlich ein Risikosignal, was aber weiterer Studien zur Verifizierung bedarf. Die ESC schlägt Morphin nicht ganz die Tür vor der Nase zu: Empfohlen wird „Morphin zur Verringerung von Dyspnoe und Angstzuständen, die routinemäßige Anwendung wird nicht empfohlen, da es zu Übelkeit und Hypopnoe führen kann“. Bei Patienten, bei denen weniger der Thoraxschmerz im Vordergrund steht, sondern Aufregung und Angst und eine damit verbundene Sympathikusaktivierung und Vasokonstriktion, sollten Benzodiazepine verabreicht werden.
Wie sich die prästationäre Gabe von Opioiden auf die Resultate der stationären Versorgung und die Ein-Jahres-Sterblichkeit der betroffenen Patienten auswirkt, untersuchte eine Kohortenstudie. Von den gut 2400 Patienten mit STEMI hatten 19 Prozent präklinisch Morphin erhalten. Die Komplikationsrate während des Klinikaufenthalts (Tod, Re-Infarkt, Schlaganfall, Stentthrombosen und Blutungen) unterschied sich zwischen beiden Gruppen nicht. Auch die Ein-Jahres-Überlebensraten zeigten mit 94 Prozent (Opioid) gegenüber 89 Prozent (kein Opioid) keine signifikante Differenz. „Im Rahmen der ärztlichen Routine“, so die Forscher „war der Einsatz von Morphin bei Patienten mit ST-Hebungsinfarkt nicht mit vermehrten Komplikationen verbunden, Stentthrombosen und Ein-Jahres-Mortalität eingeschlossen.“
Sicherlich richtig ist der Hinweis der ESC, dass Morphin die Wirkung bestimmter Gerinnungshemmer negativ beeinflussen kann. In einer Studie wurde die Medikamentenwechselwirkung zwischen Morphin und dem Thrombozytenaggregationshemmer Clopidogrel untersucht. In der randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Crossover-Studie erhielten 24 gesunde Probanden 600 mg Clopidogrel zusammen mit Placebo oder 5 mg Morphin intravenös. Die Pharmakokinetik wurde mittels Flüssigchromatographie-Tandem-Massenspektrometrie bestimmt, und Clopidogrel-Effekte mittels Thrombozytenfunktionstests gemessen. Morphin verzögerte die Clopidogrel-Absorption (p = 0,025) und die Bioverfügbarkeit seines aktiven Metaboliten um 34 Prozent (p = 0,001). Morphin verzögerte die maximale Hemmung der Thrombozytenaggregation im Durchschnitt um 2 Stunden (n = 24; p < 0,001). Die restliche Thrombozytenaggregation war eine bis vier Stunden nach der Morphiumspritze erhöht. Bei empfindlichen Personen kann es so zu einem Therapieversagen führen. Eine weitere Studie untersuchte, ob auch andere Thrombozytenaggregationshemmer wie Ticagrelor und Prasugrel mit Morphin interagieren. Morphin verzögert und vermindert die Exposition und Wirkung dieser oralen P2Y12-Rezeptor-Inhibitoren bei Patienten mit Herzinfarkt. Die Autoren empfehlen weitere Studien, bevor Morphin routinemäßig beim ACS angewendet wird. Als Alternative wird Cangrelor empfohlen. Die Substanz kann intravenös verabreicht werden und bindet selektiv und reversibel an den P2Y12-Rezeptor, um eine weitere Signalgebung und Plättchenaktivierung zu verhindern. Wegen der parenteralen Gabe wird eine Interaktion mit Morphin verhindert. Auch eine gleichzeitige Verabreichung eines Glycoprotein-IIb/IIIa-Rezeptor-Inhibitors, wie Abciximab, Tirofiban und Eptifibatid wird als Alternative genannt. Die zusätzliche Gabe eines Prokinetikums wie Metoclopramid oder die Verabreichung von gemörserten Ticagrelortabletten wird ebenfalls zur rascheren Resorption empfohlen. Die Autoren empfehlen Morphin durch Alfentanil zu ersetzen. In einer Studie wurde die Wirkung beider Opioide beim ACS verglichen. Hinsichtlich der Hypotension und der Schmerzlinderung gab es keine Unterschiede.
Die ESC spricht sich in ihrer Leitlinie eindeutig für eine konsequente Dosisreduktion von Acetylsalicylsäure aus. Sehr häufig appliziert der Notarzt 500 mg des Thrombozytenaggregationshemmers, frei nach der Devise: Die Injektionsflasche ist ja eh schon angebrochen und 500 mg werden schon nicht schaden. Bereits in den vergangen Jahren haben die American Heart Association (ACA) und der Europäische Wiederbelebungsrat (ERC ) die Dosierung auf 250 mg i.v. reduziert. Die ESC rät dazu, dass jeder ACS-Patient entweder 150 - 300 mg ASS oral oder 75 - 150 mg i.v. erhält. Lange Zeit glaubte man, dass es egal sei, ob der Patient ASS oral oder i.v. erhält. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass eine intravenöse Dosis von 250 mg Aspirin zu einer schnelleren und besseren Inhibierung von Thromboxan führt als die orale Gabe. Die prospektive, randomisierte ACUTE-Studie verglich bei 270 ASS-naiven Patienten mit ACS (< 24 Stunden) die plättchenhemmende Wirkung und die Sicherheit von ASS nach intravenöser (500 mg und 250 mg) und oraler Gabe (300 mg). Die plättchenhemmende Wirkung wurde anhand des zeitlichen Verlaufs der Thromboxan-Inhibition gemessen. Die Gabe einer intravenösen ASS-Einzeldosis von 250 mg oder 500 mg ist im Vergleich zur oralen Gabe von 300 mg ASS mit einer schnelleren und vollständigeren Inhibition der Thromboxanbildung und Plättchenhemmung verbunden.
Nicht nur beim ASS auch beim Sauerstoff will die ESC sparen. ACS-Patienten erhalten routinemäßig keinen Sauerstoff, das war auch in anderen Leitlinien so. Die Indikation wurde geändert, die Sauerstoffsättigung wurde von sO2 < 95% auf von sO2 < 90% nach unten korrigiert. Die australische AVOID-Studie hat im Jahr 2014 ergeben, dass die Sauerstofftherapie bei Patienten mit ST-Hebungs-Myokardinfarkt (STEMI) das Infarktareal sogar vergrößert, dass vermehrt Arrhythmien auftreten und die kardialen Biomarker ansteigen. Die neuere DETO2X-SWEDEHEART-Studie hat ebenfalls ergeben, dass die routinemäßige O2-Gabe bei Patienten mit Verdacht auf Myokardinfarkt und ausreichender Sauerstoffsättigung im Blut, mindestens 90 Prozent, keinen positiven Effekt auf das Outcome hat. Bemerkenswert ist jedoch, dass in der Studie die Gabe von Sauerstoff aber auch nicht nachteilig war. Die DETO2X-SWEDEHEART-Studie schloss 15 mal so viele Patienten wie die AVOID-Studie ein (6.629 vs. 441). Die aktuelle Begründung ist also viel mehr, dass Sauerstoff bei ausreichender Sättigung nicht hilfreich ist und nicht mehr, dass die Gabe schädlich sein könnte. Weniger Morphin, ASS, Sauerstoff und keine Nitrate aber dafür Betablocker – auf diese kurze Formel lässt sich die ESC-Empfehlung reduzieren. Liebe Notärzte, diskutieren Sie mit! Wie beurteilen Sie diese vorgeschlagenen Änderungen?