Der Fall klingt halb so wild: Ein Mann Anfang 20, groß, vermeintlich gesund, klagt seit Wochen über Rückenschmerzen. Bis eine Kollegin stutzig wird – und eine ungewöhnliche Entdeckung macht.
Der junge Patient klagt über zunehmende Rückenschmerzen im LWS-Bereich, die ihn seit Wochen plagen. Er ging damit von Hinz zu Kunz. Die Beschwerden kämen von seiner Größe, wurde ihm gesagt. Er schonte sich, tat alles, was man ihm empfahl – es wurde nicht besser. An diesem Tag sind die Beschwerden besonders stark. Er hält es nicht mehr aus und geht am Abend in die Notfallpraxis. Dort wird er gespritzt, doch auch das hilft nicht. Im Gegenteil!
Verzweifelt geht er in die Notaufnahme unseres Maximalversorgers. Der jungen diensthabenden Internistin kommt das spanisch vor. Der Patient ist über zwei Meter groß, hat Hände wie Teller, lange Finger. Sie schaltet, führt notfallmäßig eine Abdomensonographie durch und traut sich, trotz des Patientenalters, ein strahlungsintensives Notfall-CT durchzuführen.
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Die Diagnose: Gedeckt, rupturiertes, infrarenales Aortenaneursyma – in diesem Alter? Extrem selten! Dabei handelt es sich um eine ca. 8 cm durchmessende, geplatzte Aussackung der Bauchschlagader. Glücklicherweise liegt der 6-cm-Riss so zwischen der Aorta, die sonst maximal 2 cm groß ist, und dem Wirbelkörper, dass er nicht zum sofortigen Tod des Mannes führte.
Von jetzt an muss alles schnell gehen, denn der Patient zeigt nun zusätzlich im Labor Blutungzeichen und zunehmende Zeichen eines Schocks. Der gerufene diensthabende Gefäßchirurg stellt die Indikation zur Notfall-OP. Ich überlege: Das sonst übliche Konzept der Notfall-EVAR, eine Reparatur der Aorta über die Leiste (endovaskuläre Aortenreparatur) kommt bei bestehender Anatomie und dem jungen Alter des Patienten nicht in Frage. Also doch die offene Operation – länger und gefährlicher. Aber was bleibt bei einer Letalität von 60–75 % übrig?
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Während die Anästhesie ihn stabilisiert, kurzes Gespräch mit dem Patienten und Aufklärung darüber, was passieren wird. Wir sind uns beide des Risikos bewusst. Er willigt ein – was bleibt ihm auch anderes übrig. Ich verspreche, die Eltern und seine Freundin nach der OP anzurufen.
Ich liebe diese konzentrierte Stimmung in Notfallsituationen. Ein tolles Team! Direktverlegung in unseren Hybridsaal. Ein erfahrenes Anästhesieteam. Kurze klare Anweisungen. Mittlerweile ist es schon fast 24 Uhr. Ich bin hellwach, aber nervös – wird alles gut gehen? Hautschnitt, die OP beginnt. Das Ganze ist sehr anspruchsvoll für mich als jungen Oberarzt und deshalb auch zeitaufwendig. Ich muss einige Kompromisse eingehen, aber zum Glück geht alles gut. Nach etwa vier Stunden setze ich die letzte Klammernaht. Nahtende! Erleichterung. Das Adrenalin lässt nach. Der Patient geht beatmet und kreislaufstabil auf die Intensivstation.
Im Diktierzimmer setzte ich mich zum ersten Mal und greife zum Telefon. Im Gespräch mit den Angehörigen merke ich, wie viel Kraft es gekostet hat. Es ist schon fast 5 Uhr, die Sonne geht gleich auf. Auf dem Heimweg kreisen meine Gedanken. So jung und so ein monströses Aneurysma, das muss genetisch bedingt sein. Der Großwuchs und die Arachnodaktylie – das könnte doch ein Marfan sein.
Als ich am Nachmittag aufwache, rufe ich gleich auf der ITS an. Alles ist gut! Der Patient ist extubiert, platt, aber stabil. Ich bin so erleichtert. Nach 5 Tagen auf der Intensivstation wird der Patient verlegt. Wir komplettieren die Diagnostik. Die Histo aus dem OP und auch die genetische Untersuchung bestätigen schließlich den Verdacht: Marfan-Syndrom.
Auch die Aorta ascendens zeigt ein sehr großes Aneurysma. Ich bin schon lange nicht mehr in der Herzchirurgie. Wir empfehlen deshalb die Vorstellung beim Herzchirurgen.
Aber warum erzähle ich euch das alles? Häufiges ist häufig, und Seltenes ist selten. „Wenn du Hufgetrampel hörst, sind es wahrscheinlich Pferde, keine Zebras“, heißt es in House of God. In dieser Nacht war es ein Zebra!
Weitere Infos zum Marfan-Syndrom findet ihr hier.
Auf Twitter erklärt der junge Oberarzt, warum er diesen Fall nie vergessen wird. Zum Twitter-Account von dr.heartbreaker kommt ihr hier.
Bildquelle: Leonard von Bibra, unsplash