Hunderte Wissenschaftler weltweit untersuchen die Eigenschaften verschiedener Neuronentypen der Gehirne von Mäusen, Affen und Menschen. Jetzt haben sie einen Atlas dieser Zelltypen erstellt.
Schon seit mehr als 100 Jahren erforschen Neurowissenschaftler die Eigenschaften der Neuronen im Gehirn. Eine der zentralen Fragen dabei ist, inwiefern sich die verschiedenen Nervenzelltypentypen voneinander unterscheiden und welchen Einfluss das auf die Hirnaktivität hat.
Dem BRAIN Initiative Cell Census Network (BICCN), einer internationalen Forschungskollaboration, ist jetzt ein Durchbruch gelungen: Sie haben einen Zellatlas erstellt, der einen einzigartigen Überblick über die verschiedenen Neuronentypen und ihre jeweiligen Eigenschaften im motorischen Kortex liefert – und zwar im Gehirn von Mäusen, Affen und Menschen. Der Atlas wurde in einer Sonderausgabe von Nature veröffentlicht. Die Ausgabe enthält 17 Arbeiten dazu, darunter einen Überblicksartikel, der den gesamten Atlas beschreibt.
Das Forschungsnetzwerk BICCN hatte sich zum Ziel gesetzt, die Neuronentypen im motorischen Kortex so umfassend wie möglich zu beschreiben. Dabei sollte ein Katalog auf Grundlage eines „Zellzensus“ entstehen. Dieser sollte, ähnlich wie ein Bevölkerungszensus, die verschiedenen Neuronentypen definieren und zwar inklusive ihrer spezifischen Merkmale und ihrer Verteilung im Gehirn.
Mithilfe neuer experimenteller Techniken und Datenanalyseverfahren ist es den Wissenschaftlern jetzt gelungen, genetische Informationen über mehr als eine Million Zellen zu sammeln. Sie erfassten für einen Teil der Zellen ihre räumliche Lage, Form und elektrischen Eigenschaften und ermittelten ihre Verbindungen zu weiteren Neuronen in anderen Gehirnbereichen. Da die Forscher die Zellen von Mäusen, Weißbüschellaffen und Menschen analysierten, konnten sie sogar die evolutionäre Entwicklung der verschiedenen Nervenzelltypen nachzeichnen. Das Ergebnis ist ein Zellatlas, der einen bislang nicht gekannten Überblick über den motorischen Kortex und dessen Entwicklung im Laufe der Evolution bietet.
Wissenschaftler der Universität Tübingen haben zu dieser Gemeinschaftsleistung eine Studie beigesteuert, in der sie die verschiedenen Zelltypen im motorischen Kortex der Maus auf Grund mehrerer Datentypen charakterisieren. Die Arbeit unter der Leitung von Philipp Berens, Professor am Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen, Prof. Andreas Tolias vom Baylor College of Medicine in Houston, Texas, und Prof. Rickard Sandberg vom Karolinska Institutet in Stockholm liefert eine der bisher vollständigsten Beschreibungen der Vielfalt verschiedener Neuronentypen im Maushirn. Sie ist Teil der Sonderausgabe von Nature und wurde zuvor bereits online publiziert.
Neurowissenschaftler beschreiben Neuronen in der Regel anhand drei grundlegender Merkmale: ihre Anatomie, ihre Physiologie oder wie sie auf Reize reagieren, und ihr Transkriptom, das heißt die genetische Information, die in der Zelle tatsächlich abgelesen wird. Das Team verwendete eine neue experimentelle Technik, genannt Patch-seq, um eine große Datenbank mit anatomischen, physiologischen und genetischen Informationen von Zellen im motorischen Kortex der Maus zusammenzustellen.
Dass die Forscher die drei grundlegenden Eigenschaften bei über 1.000 Zellen gleichzeitig messen konnten, ermöglichte ihnen ein Verständnis dafür, wie die Neuronen im motorischen Kortex miteinander in Beziehung stehen. Mit Verfahren aus dem maschinellen Lernen führten sie die anatomischen, physiologischen und genetischen Informationen zusammen und entdeckten so Beziehungen zwischen den Neuronen, die zuvor nicht bekannt waren. „Die großen genetischen Neuronenfamilien haben unterschiedliche anatomische und physiologische Eigenschaften. Aber innerhalb jeder Familie zeigen die Neuronen eine sich graduell verändernde anatomische und physiologische Vielfalt“, erklärt Dr. Dmitry Kobak von der Universität Tübingen, einer der Hauptautoren der Studie.
In Analogie zum Baum des Lebens, der die Beziehungen zwischen den verschiedenen Spezies beschreibt, kamen die Forscher zu folgendem Schluss: Die Neuronen unterliegen einer Ordnung, die auf Ebene der Familien aus verschiedenen, sich nicht überschneidenden Zweigen besteht. Innerhalb jeder Familie weisen sie jedoch mit Blick auf ihre genetischen, anatomischen und physiologischen Eigenschaften fortlaufende Veränderungen auf, so dass der „Baum der Zelltypen“ eher einem Bananenbaum als einem Olivenbaum ähnelt. Damit schlagen die Wissenschaftler ein völlig neues Modell vor, um die Vielfalt der Neuronen im Gehirn und ihre Beziehungen zueinander zu beschreiben.
„Die Daten aus dem neuen Zellatlas unserer Forschungskooperation werden für die Neurowissenschaft eine unschätzbar wertvolle Ressource sein“, sagt Berens. „Indem wir unser Wissen aus dem maschinellen Lernen einbringen, stellen wir die Verbindung von der Genetik zur Physiologie und zur Anatomie der Neuronen her. Das kann entscheidend sein, wenn es darum geht, Krankheiten, die das Gehirn betreffen, auf Ebene der Zellen zu verstehen.“
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Bildquelle: Nick Seagrave, unsplash