Bei schwerkranken COVID-19-Patienten haben Mediziner ein sogenanntes Hypoxie-Paradox beobachtet. Was es damit auf sich hat und wie man es behandeln kann.
Es gibt einige Therapiemöglichkeiten für den Einsatz bei schweren COVID-19-Verläufen, die immer noch nicht ausreichend in klinischen Studien untersucht wurden. Darunter auch rekombinantes humanes Erythropoietin (rhEPO). Ein kürzlich veröffentlichtes Review fasst zusammen, welche zunehmende Verbesserung durch den Einsatz von EPO erwartet werden kann und führt dazu einige Case-Reports an.
Vor dem Hintergrund von experimentellen und klinischen Hinweisen, wird erwartet, dass Erythropoietin die Atmungs-/Organfunktion verbessert, gegen übermäßige Entzündungsreaktionen wirkt und neuroprotektiv bzw. neuroregenerativ agiert, erklären die Forscher im Review. Personen mit akuten COVID-19-Infektionen weisen häufig einen verringerten EPO-Spiegel auf, was laut Autoren einerseits auf einen relativen Mangel an EPO bei einer schweren Erkrankung hinweist, aber auch dazu veranlasst hat, diese Kondition als „Hypoxie-Paradox“ zu benennen. Bei einer Hypoxie würde man gängigerweise erwarten, dass die EPO-Synthese angeregt wird, unter anderem wegen des Hypoxie-induzierten Faktors (HIF). Paradoxerweise wurde bei einigen COVID-Patienten aber das Gegenteil beobachtet. Wie es zu diesem Paradoxon kommt, ist allerdings nicht genau geklärt.
„Auf das ‚hypoxia paradox‘ sind wir nach einer Publikation gestoßen, die zeigte, dass der Serum-EPO-Spiegel in schwer kranken COVID-19 Patienten erniedrigt ist. Gerade bei einer Erkrankung mit Hypoxie haben wir das Gegenteil erwartet. Darum nennen wir dies ein ‚hypoxia paradox‘“, erklärt Dr. Martin Begemann vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin und Autor der Studie auf Anfrage der DocCheck-Redaktion. Laut Autoren könne eine Substitutionstherapie von EPO das Hypoxie-Paradoxon überwinden und den Status und die Folgen einer COVID-19-Erkrankung verbessern.
Vier Fallbeispiele bestärken dabei die Argumentation: Es handelt sich um vier männliche COVID-19-Patienen im Alter zwischen 58 und 80 Jahren. Alle Patienten wiesen zunächst Symptome einer einfachen viralen Infektion auf, die sich schnell zu Atemversagen und einer schweren COVID-19-Erkrankung entwickelten. Die Patienten mussten hospitalisiert und intensiv behandelt werden. Patient 1 erhielt unmittelbar rhEPO, sodass sich die schwere Hypoxie und eine notwendige Beatmung innerhalb von drei Tagen legten. Die Autoren verweisen darauf, dass diese ungewöhnlich schnelle Verbesserung wahrscheinlich dem EPO zuzurechnen ist.
Die drei anderen Patienten entwickelten das akute Atemnotsyndrom (ARDS), was eine invasive Beatmung sowie eine zusätzliche Bauchlagerung erforderte. Eine rasch eintretende Nierenschädigung und eine Verschlechterung des Herz-Kreislaufs-Systems führten zu einer sofortigen Behandlung mit EPO-Analoga. Zusätzlich waren sie auf eine Antikoagulationstherapie angewiesen, so wie es auf deutschen Intensivstationen standardmäßig bei COVID-19 vorgesehen ist. Alle vier Fallbeispiele waren anämisch, was laut Forscher das schwere Erkrankungsstadium unterstreiche. Keiner der Patienten erhielt Bluttransfusionen, jedoch blieb der Eisenstatus aller innerhalb oder nahe des Normalbereichs. Weitere Laborwerte entsprachen den üblichen Parametern bei einer schweren COVID-19-Infektion sowie erhöhte inflammatorische Marker im Sinne eines Zytokinsturms. Alle Patienten erhielten rhEPO-Analoga (2.000-4.000 IE pro Injektion) und erholten sich.
„Die Mechanismen könnten vielfältig sein: Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel über Degradierung der EPO-mRNA durch eine microRNA, die in Sepsis induziert wird, oder durch NSP von SARS-CoV-2 in den infizierten Zellen, oder durch dysfunktionales mitochondriales Signalling“, sagt Dr. Begemann über die möglicherweise zugrundeliegenden Mechanismen des Hypoxie-Paradox.
Die Autoren fordern nun eine angemessene doppelblinde, randomisierte und Placebo-kontrollierte klinische Studie um die Vorteile einer rhEPO-Behandlung bei schweren COVID-19-Verläufen zu untersuchen. Problematisch ist nämlich, dass in den vier Fallbeispielen des Reviews keine EPO-Werte des Serums eingeschlossen sind, da es nicht Teil der klinischen Laborroutine ist. Begemann verweist ebenfalls auf die „Notwendigkeit einer neuroprotektiven Strategie in COVID-19“, da eine Infektion auch insbesondere das „zentrale Nervensystem in Mitleidenschaft zieht“.
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