Gängige Analysesoftwares übersehen bei der Untersuchung von SARS-CoV-2-Proben häufig, wenn im Erbgut durch Mutationen Gen-Abschnitte verschwinden. Dies könnte zu Problemen führen, wie eine Studie zeigt.
Wird eine Ansteckungen mit dem Coronavirus vermutet, wird mittels PCR-Verfahren nicht nur die Infektiösität von entnommenen Proben untersucht, sondern auch, um welche Virusvariante es sich handeln könnte. Dazu wird eine Analysesoftware genutzt, die einzelne Nukleotide erkennt und für die Variante typische Abfolgen identifiziert. Bei der Auswertung kommt es jedoch häufiger vor, dass bestimmte Genabschnitte nicht vollständig identifzierbar sind z.B. aufgrund einer mangelhaften Aufbereitung der Probe. Statt der typischen Buchstaben – A, T, G & C, die für die Gen-Bausteine stehen – nutzt die Software dann als Platzhalter den Buchstaben N zur Darstellung des Virenerbguts. Viele Labore nehmen diese fehlerhafte Transkription hin, da zur Bestimmung der Variante nur wenige Genabschnitte erforderlich sind.
In einer aktuellen Studie hat ein Forscherteam nun herausgefunden, dass dieses Vorgehen zu einem weitreichenden Problem führen kann. „Durch Mutationen können Varianten von SARS-CoV-2 entstehen, denen längere Genabschnitte fehlen“, erklärt Bioinformatiker Prof. Alexander Sczyrba. „Wir haben festgestellt, dass die häufig eingesetzte Standardsoftware auch dann Platzhalter in die Gensequenz einträgt, wenn ein ganzer Genabschnitt gar nicht vorhanden ist“. Studienautor Prof. Jörn Kalinowski erläutert weiter: „Das ist ein systematischer Fehler. Denn eine solche Lücke im Genom ist ein wichtiger Anhaltspunkt, wenn es um die künftige Gefährdung durch das Coronavirus geht.“ Ist eine Lücke in einem Genabschnitt, verschwinden auch Eigenschaften, die das betroffene Gen gespeichert hatte. Bei der Vermehrung des Virus werden die Eigenschaften nicht mehr weitergegeben.
„Hinzu kommt, dass an solchen Leerstellen im Genom auch keine Mutationen mehr entstehen können, die das Virus für den Menschen gefährlicher machen.“ Solche fehlenden Genabschnitte können laut Kalinowski mit dazu führen, dass sich SARS-CoV-2 an die Menschen als ihre Wirte anpasst. So wird das Virus dann zwar infektiöser, zugleich aber ungefährlicher. „Das Virus würde damit endemisch werden, tritt also in verschiedenen Regionen regelmäßig auf, so wie es auch bei anderen, lange bekannten Coronaviren der Fall ist, die bei uns heutzutage lediglich harmlose Erkältungskrankheiten verursachen“.
Seit April 2020 wertet die Arbeitsgruppe von Kalinowski Proben aus Routinekontrollen am Klinikum Bethel aus. Die detaillierte Analysen haben nicht nur geholfen Infektionsketten zu rekonstruieren und Infektionscluster festzustellen, sondern gaben den Forschern auch Hinweise auf die Gen-Lücke. Nachweisen konnten die Wissenschaftler die fehlenden Nukleotide, weil sie – anders als beim Standard-PCR-Test üblich – zusätzlich Nanoporen-Sequenzierung einsetzten. Mit den Spezialgeräten lassen sich längere Genabschnitte bestimmen als mit den üblichen Sequenziermaschinen. Außerdem ergänzten die Forscher eine frei verfügbare Software zur Gen-Analyse um eine Funktion, die fehlende Nukleotide in Gensequenzen korrekt erkennt und kennzeichnet. Dabei entdeckten sie eine Besonderheit der Virusvariante: „In ihrem genetischen Code fehlen 168 Nukleotide“, berichtet Jörn Kalinowski. Die Gen-Bausteine fehlten in der Genregion „Open Reading Frame 8“ (ORF8). Die genetischen Informationen sind mutmaßlich mit dafür verantwortlich, dass es dem Virus gelingt, die Immunreaktion von Infizierten zu verzögern.
„Durch diese Analyse ließ sich nicht nur das Cluster in unserem Klinikum feststellen“, sagt Christiane Scherer. „Wir konnten auch absichern, dass die Virusvariante bei uns in eine Sackgasse geraten ist und sich nach der Eindämmung niemand mehr damit angesteckt hat."
Die Forscher wollten wissen, woher die Virus-Variante mit dem verlorenen Genabschnitt stammt. Dafür entnahmen sie Rohdaten aus der zentralen Datenbank der Coronaviren-Varianten und werteten sie mit ihrer eigens entwickelten Software aus. Das Ergebnis veranschaulichten die Wissenschaftler in einem Stammbaum von SARS-CoV-2. Darin ist zum Beispiel zu sehen, dass ein Vorläufer der Virusvariante vorher in Dänemark entdeckt wurde.
Um zu klären, welche Funktionen einzelne Gene des Virus haben und wie es sich entwickelt, sei es wichtig, nach weiteren Varianten mit gelöschten Genabschnitten suchen zu können, sagt Jörn Kalinowski. „Doch dafür müssen bundesweit alle Rohdaten von analysierten Corona-Proben verfügbar gemacht werden. Rigide Datenschutzbestimmungen verhindern das momentan leider“, beklagt er.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Bielefeld. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Denny Luan, unsplash.