Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Das ist in manchen Fällen nicht gut genug, wenn es nach dem behandelnden Arzt geht. Was tut man als Mediziner, wenn Kinder Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen nicht in Anspruch nehmen können, weil Eltern diese verweigern?
Der zweijährige Mario (Name geändert) ist taub. Ärzte könnten ihm mit Cochlea-Implantaten zwar helfen, doch seine Eltern lehnen eine OP ab. „Wir sind eine gehörlose Familie, wir kommunizieren alle in Gebärdensprache. Und wir möchten diese Operation für unseren Sohn nicht“, sagt die Mutter gegenüber Medienvertretern. Sie empfindet ihre Gehörlosigkeit nicht als Handicap. Ihr Sohn ist zu klein, um selbst eine Entscheidung zu treffen. Zugegeben, es handelt sich hier um ein extremes Beispiel. Aber auch alltäglichere Situationen, etwa wenn Eltern Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen ablehnen, werfen die Frage auf: Was tut man als Arzt in solchen Fällen? Die Eltern der Praxis verweisen? „Ich versuche, die Eltern auf ‚sanfte‘ Art und Weise davon zu überzeugen, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken und beende deshalb auch nicht die Zusammenarbeit“, sagt ein Kinder- und Jungendarzt in Köln. „Nicht selten kommt es vor, dass die Eltern einfach etwas Zeit benötigen und dann auf meine Argumentation eingehen“, spricht er aus eigener Erfahrung.
Professor Dr. Jörg M. Fegert © Universitätsklinikum Ulm „Der erste Schritt ist immer das vertrauensvolle, wertschätzende Gespräch mit den Eltern“, bestätigt auch Professor Dr. Jörg M. Fegert. Er ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. „Vielleicht liegen einer Ablehnung Vorbehalte zu Grunde, die im eng getakteten Praxisalltag bislang nicht geäußert wurden.“ Fegert gibt zu bedenken, als gemeinsame Ebene die beste Lösung für Kinder im Auge zu behalten. „Da hilft es, wenn der Kinderarzt seine Sorge, das Kind könnte durch eine Entscheidung der Eltern Schaden nehmen, klar benennt.“ Um schwierige Gespräche vorzubereiten oder weitere Fragen zu klären, können Ärzte die bundesweite medizinische Kinderschutzhotline 0800 19 210 00 kontaktieren. Fegert: „Wir haben derzeit bis zu 80 Anrufe pro Monat, von denen sich bislang nur rund sechs Prozent auf eine konkrete medizinische oder zahnmedizinische Vernachlässigung beziehen.“ Einzelne Anfragen bezögen sich auf die Möglichkeit, laut Bundeskinderschutzgesetz in Fällen vermuteter Kindeswohlgefährdung Informationen auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten ans Jugendamt weiter zu geben. „Diese Befugnis unterliegt einigen Bedingungen, was zu den häufigsten Beratungsanliegen an die Medizinische Kinderschutzhotline gehört“, ergänzt Fegert. Bundesweite medizinische Kinderschutzhotline
Im Gespräch mit DocCheck berichtet Dr. Lieselotte Simon-Stolz von weiteren Möglichkeiten, die Ärzten zu Verfügung stehen. Sie ist Kinder- und Jugendärztin sowie Kinderschutzmedizinerin am Gesundheitsamt des Landkreises Neunkirchen (Saar). „Bei Vorsorgeuntersuchungen gibt es seit einiger Zeit das verbindliche Einladungswesen“, erzählt die Expertin. Mittlerweile haben viele Bundesländer Kinderschutz-Gesetze verabschiedet, um den Datenabgleich zwischen Pädiatern und Meldebehörden zu legitimieren. „Eltern werden schriftlich daran erinnert, dass die Vorsorgeuntersuchung fällig wird“, erklärt Simon-Stolz. Ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen: „Liegt auch drei Wochen nach Erinnerung für die jeweilige Früherkennungsuntersuchung keine Teilnahmemeldung vor, informiert die Zentrale den für den Wohnsitz des Kindes zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe“, heißt es in der entsprechenden Verordnung. Tatsächlich entbinden solche Regelwerke Ärzte in Teilen von ihrer Schweigepflicht. „Sie sind verpflichtet, durchgeführte Vorsorgeuntersuchungen an das Zentrum zu übermitteln“, ergänzt Simon-Stolz. „Fand kein Kontakt des Arztes zur Familie statt, kommen Gesundheitsämter zum Einsatz.“ Sie versuchen, durch Anrufe oder Briefe die Eltern doch noch zu motivieren, ihrer Pflicht nachzukommen. „Allerdings ist die Vorsorgeuntersuchung nicht verpflichtend“, gibt sie zu bedenken. Nachgelagert kann das Jugendamt ebenfalls vorbeikommen, eine rechtliche Handhabe gibt es aber nicht. Es bleibt bei der Überzeugungsarbeit. Darüber hinaus verweist Simon-Stolz noch auf sogenannte frühe Hilfen. Das sind Angebote für Schwangere und für deren Kinder von null bis drei Jahren. Familienhebammen, Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und -pfleger sowie vergleichbare Berufsgruppen unterstützen im Auftrag der Kommunen hilfsbedürftige Familien längerfristig.
Ähnlich umstritten ist das Thema Impfungen. Auch hier gibt es in Deutschland keine Verpflichtungen. Wieder einmal ist es zu einem heiklen Fall gekommen. Wie Mitte Januar bekannt wurde, hat sich eine 17-Jährige aus Zentralamerika während ihres Schüleraustauschs in Deutschland mit Masern infiziert. „Weil in Deutschland immer noch nicht ausreichend geimpft wird, sind die lebensgefährlichen Masern in Guatemala zurück, wo sie eigentlich schon ausgerottet waren“, kommentiert Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Wir brauchen endlich die Impfpflicht! Sie muss Teil des Koalitionsvertrags der GroKo werden.“ Andere Länder wie Frankreich und Italien hätten inzwischen auch erkannt, dass man mit Appellen an die Freiwilligkeit und mit Aufklärung nicht weiterkomme. Fischbach: „Viele verbummeln wichtige Impfungen, einige wenige lehnen sie auch aus ideologischen Gründen ab. Die in Deutschland geltende Meldepflicht durch die Kitas kann dies nur bedingt ändern.“ Simon-Stolz ergänzt: „Eltern müssen nachweisen, dass der Kinderarzt zu Impfungen beraten hat.“ Zwingen könne man die Eltern derzeit nicht.
Ganz anders sieht es aus, falls das Leben oder die Gesundheit von Kindern in Gefahr ist. Beispielsweise verweigern Zeugen Jehovas Bluttransfusionen. Auch Marios Eltern, die ihrem Sohn das Cochlea-Implantat vorenthalten, stellen das ärztliche Gewissen auf eine harte Probe. Mittlerweile ist der Fall vor Gericht, denn die Klinik, die ein Cochlea-Implantat empfohlen hat, schaltete einen Anwalt ein. Der Fall wirft grundsätzliche Fragen auf: Leben Gehörlose mit CI-Versorgung besser? Dürfen Ärzte und der Staat bestimmen, was für ein Kind richtig ist? Wann genau ist das Kindeswohl gefährdet? „Unsere Verantwortung als Mediziner ist es, unter Beachtung des medizinischen Fachwissens, also dem Stand der medizinischen Wissenschaft in Bezug auf Eingriff und mögliche Alternativen, und dem Wissen über die langfristige Lebenssituation von Kindern ohne den entsprechenden Eingriff, die Eltern eingehend zu beraten“, sagt Fegert. So manche Entscheidung sei für Ärzte zunächst unverständlich. „Allerdings muss uns Medizinern klar sein, dass wir bei allem Fachwissen in der Regel nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben einer Familie sehen und beurteilen können.“ Sollten Entscheidungen der Eltern allerdings dem mutmaßlichen Willen oder dem mutmaßlichen Wohl des Kindes klar entgegenstehen, bleibt nur noch der Kontakt zum Familiengericht, das innerhalb von Stunden erforderliche Entscheidungen fällen kann. Ist selbst dafür keine Zeit, bleiben Ärzte im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 Strafgesetzbuch) meist straffrei, wenn sie gegen den Willen von Erziehungsberechtigten handeln.