Der Kunde, der in die Apotheke stapft, ist sichtlich aufgebracht. Er fordert ein Medikament. Ein Rezept brauche er nicht, er sei schließlich Anwalt und kenne seine Rechte – und erklärt uns, wie wir unseren Job zu machen haben.
Der grauhaarige Mann walzt in die Apotheke, als sei er auf dem Weg in einen mittelgroßen Konflikt. Ich schaue gerade die Aufzeichnung des Vorfalls an. Interessant, wie die Körpersprache hier schon Kommendes ankündet. Dabei sieht er doch so distinguiert aus. Aus dem was ich von meinen Mitarbeitern gehört habe, weiß ich, was gesprochen wurde – zumindest auszugsweise.
Er drückt der Kollegin die Packung Condrosulf in die Hand – „Die will ich wieder.“ Sie schaut auf die Packung, sieht eine Etikette mit Namen und sucht im Computer. Er ist nicht drin, kein Patient von uns. Die Packung hat er von der Hausarztpraxis bekommen. Selbstdispensation.
Condrosulf ist ein Mittel gegen Knorpelabbau mit Chondroitinsulfat, rezeptpflichtig und wird von der Grundversicherung übernommen.„Für die Abgabe brauchen wir ein Rezept“, sagt die Kollegin ihm.
„Ich brauche das aber wieder“, sagt er.
„Moment, ich hole die Apothekerin dazu.“
Sie kommt und er legt los. Viel Finger-zeigen, ruckartiges Kopfschütteln, lautes Reden – wenn man den Bewegungen des Mundschutzes glauben kann. Auszugsweise: „In der Packungsbeilage steht drin, dass man das mindestens 6 Monate nehmen muss. Der Arzt hat mir nur eine Packung mitgegeben, das reicht nirgends hin! … Ich will nicht wieder zum Arzt. Das ist reine Geldmacherei! … Sie müssen mir das auch so geben. Wenn da drinsteht, dass man es so lange nehmen muss, dann sind sie verpflichtet mir das zu geben!“
Die Apothekerin versucht ihm zu erklären, wie es wirklich ist, wird aber schon nach wenigen Worten unterbrochen. „Ich bin Anwalt!“ Er schmeißt seine Visitenkarte auf den Tisch, die Apothekerin schaut sie an und legt sie wieder zurück. „Ich kenne das Gesetz und Sie sind verpflichtet mir das abzugeben!“
Nein. Das Gesetz sagt, die Apotheke braucht ein Rezept vor der Abgabe. Man könnte vielleicht noch darüber reden, dass wir im Rahmen unserer Verantwortung eine Ausnahme machen – auch wenn das kein lebensnotwendiges Mittel ist, das Risiko bei der Einnahme etwas falsch zu machen, ist relativ gering – in dem Fall könnten wir es ihm verkaufen, denn die Krankenkasse übernimmt das ohne Rezept nicht. Verpflichtet sind wir als Apotheker nicht, weder durch das Gesetz noch durch die Berufsethik. Aber da er gar nicht hinhört und mit seinem Verhalten wirklich aneckt, fällt da auch die Bereitschaft meiner Apothekerin eine Ausnahme zu machen gegen Null. Die Ausnahme wäre nämlich zumindest theoretisch rechtlich anfechtbar.
Jetzt fängt er wirklich an zu „toben“. Die Maske rutscht ihm dabei wiederholt über die Nase, er zieht sie wieder hoch. Er echauffiert sich über Merkel (wir sind hier in der Schweiz?) und die Gesundheitspolitik. Darüber, dass die Ärzte und wir nur am Geldverdienen interessiert sind; dass meine Kollegin ganz offensichtlich den Beruf verfehlt hat; dass sie besser Lehrerin geworden wäre (?). Und natürlich, dass das hier Folgen haben würde – er würde sich persönlich beim BAG beschweren gehen. Über uns. Über die Apotheken allgemein. Und die Ärzte natürlich. Alles Geldmacherei! (Das BAG hat wahrscheinlich Besseres zu tun)
Ich bewundere meine Apothekerin, wie sie bei dem Ganzen nur ruhig stehen bleibt. Die Hände vor sich auf die Theke legt. Zuhört. Den Kopf schüttelt. Noch einmal ruhig erklärt. Erstaunlicherweise ist gerade nur eine andere Kundin im Laden, die etwas irritierte Blicke wirft. Ansonsten hat er nur die anderen Mitarbeiter als Publikum im Hintergrund.
Die Abschiedsworte von ihm sind sicher nicht nett, aber nun steckt er seine Packung (inzwischen flach gedrückt vor Wut) ein und stapft aus der Apotheke. In die Nächste?
Es fällt leiser Applaus aus dem Hintergrund.
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