Allen Erkenntnissen zum Trotz: Ivermectin bleibt für viele die vermeintliche Geheimwaffe gegen COVID-19. Woher diese Begeisterung kommt – und warum sie gefährlich ist.
Das Echo zum Einsatz von Ivermectin bei COVID-19 ist eigentlich eindeutig: Ein Cochrane-Review fand keine überzeugenden Studiendaten (wir berichteten), das RKI sowie klinische Studien und die US-Behörden CDC und FDA sagen ebenfalls Nein. Und dennoch hält sich das Antiparasitikum hartnäckig in der Hitliste vermeintlicher Geheimwaffen gegen SARS-CoV-2. Dass Laien verunsichert sind, ist angesichts der Fülle an Fehlinformationen wenig verwunderlich. Aber die Faszination, die der Wirkstoff in Corona-Fragen selbst bei Experten auslöst, gibt zu denken – und ist aus mehreren Gründen nicht ganz ungefährlich.
Zum einen erschwert der Run auf Ivermectin den Einsatz des Wirkstoffs da, wo er ursprünglich hingehört: In der Tiermedizin. US-Tierärzte beklagen, dass das gängige und günstige Antiparasitikum erheblich teurer geworden sei. Der Tubenpreis beim Großhändler erhöhte sich Medienberichten zufolge auf knapp 7 US-Dollar, von ursprünglich gut 3 US-Dollar. Weiteres Praxisbeispiel: Eine spezielle Pferdepaste, die üblicherweise für 7 US-Dollar verkauft werde, gehe auf der US-Website von Amazon derzeit für gut das 6-Fache über den imaginären Tresen.
Auch der New York Times gegenüber berichten die Veterinäre von einer angespannten Lage; es sei, neben der sehr spürbaren Preissteigerung, teilweise schwer, überhaupt an das Mittel heranzukommen. Ein Lieferant für Landwirte in Las Vegas habe inzwischen reagiert: Hier bekommen nur noch Kunden Ivermectin, die nachweisen können, dass sie ein Pferd besitzen, berichtet Stat News.
Auch in Europa machte sich die stark angezogene Nachfrage zwischenzeitlich bemerkbar. Als die Slowakei Anfang des Jahres als erstes EU-Land eine Empfehlung für Ivermectin bei COVID-19 aussprach, war das in Apotheken im benachbarten Österreich zu spüren. Der Wirkstoff war teilweise über Wochen nicht lieferbar. Das dortige Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) habe Ivermectin daher mittlerweile „zum Schutz der eigenen Bevölkerung“ mit einem Exportverbot belegt. Der Umsatz soll seit dem Frühjahr wieder deutlich gesunken sein. In Deutschland kam es zwischenzeitlich nur kurz zu Lieferengpässen, berichteten Veterinäre gegenüber der DocCheck-Redaktion. Dass die Situation hier nicht wie in den USA eskalierte, mag auch daran liegen, dass Ivermectin nicht rezeptfrei im Handel ist.
Neben dem Hamstern gibt es aber noch ein zusätzliches Problem: Patienten, oftmals Laien, verwenden Präparate, die in ihrer Formulierung und Dosierung für den Veterinärbetrieb zugelassen sind, nicht aber für den Einsatz beim Menschen. Die Folgen sind auffällig. Giftzentralen in den USA vermelden beispielsweise einen rapiden Anstieg von Notrufen, die auf Vergiftgungen mit Ivermectin zurückzuführen sind. Ebenfalls bedenklich: Der Wirkstoff wird in diversen Internetforen als verheimlichtes, aber leicht zu beschaffendes Wundermittel gegen COVID-19 gefeiert – und damit als Alternative zur in diesen Kreisen ohnehin argwöhnisch beäugten Impfung. Die FDA hat versucht, auf humorvolle Weise dagegen anzugehen, wie dieser Tweet zeigt.
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Auch in der Humanmedizin wird Ivermectin zwar eingesetzt, zum einen ebenfalls als Antiparasitikum, zum anderen aber auch in der topischen Anwendung bei Hauterkrankungen wie Rosazea. Doch die Zusammensetzung und Darreichungsform der Mittel ist oft nicht vergleichbar mit Medikamenten aus dem tierärztlichen Bereich. Und wie bei allen Hamsterkäufen, die mit der COVID-19-Pandemie zusammenhängen, führt auch das Bunkern von Ivermectin-haltigen Arzneien für Menschen in erster Linie nur dazu, dass Patienten, die den Wirkstoff tatsächlich benötigen, in die Röhre gucken – Stichwort Budesonid (wir berichteten) und Hydroxychloroquin (wir berichteten).
Nun mag man argumentieren, dass das Hamstern bei einem Antiparasitikum nicht so schlimm sei wie bei einem Asthmaspray; aber das grundlegende Problem bleibt das gleiche. „Die enormen Auswirkungen von COVID-19 und der daraus resultierende Drang, die klinische Wirksamkeit neuer Therapieoptionen zu demonstrieren, bieten einen fruchtbaren Boden für die Verbreitung selbst schlecht belegter Behauptungen zu Wirksamkeiten, sowohl in wissenschaftlicher Literatur als auch in den sozialen Medien“, heißt es in einem Kommentar zum Ivermectin-Wahn in Nature.
Die in der COVID-Pandemie zu beobachtende, teils fast sofortige Übernahme und Anerkennung von Forschungsergebnissen – auch aus schwachen, schlecht designten Studien – führe zu einer ähnlich überstürzten Implementierung in der klinischen Praxis und öffentlichen Gesundheitspolitik. Das Ganze resultiert auch in schlechter Aufarbeitung von Forschung, vor allem in Analysen, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Wenn eine Flut an Arbeiten in Meta-Analysen zusammengeworfen wird, komme es nicht selten zu Fehlinterpretationen, weil sich die einzelnen Studien in ihrer Qualität und Aussagekraft oft erheblich unterscheiden, so die Nature-Autoren. Wie schwer es in einer solchen Gemengelage ist, von einem einmal verkündeten Ergebnis wieder wegzukommen, zeige das Beispiel Ivermectin eindringlich.
„Auf Basis einer mangelhaft untersuchten Evidenz wurden Millionen Dosen eines potenziell unwirksamen Medikaments weltweit verabreicht, obwohl die Belege mit einer sehr simplen Zahlenüberprüfung innerhalb von Wochen entkräftet werden konnten“, so der Nature-Kommentar weiter. Das habe unberechtiges Vertrauen in Ivermectin als Therapie und Prophylaxe von COVID-19 geschürt, anderen Forschungsfeldern die Aufmerksamkeit genommen und resultiere wahrscheinlich in unpassender oder minderwertiger Behandlung von Patienten.
„Ich finde es generell sehr erstaunlich, dass Leute eher einem ungetesteten Mittel trauen, dessen vermeintliche Wirkung gegen das Coronavirus auf Berichten im Internet beruht und dessen Nebenwirkungen sie nie hinterfragen, als einer Impfung zu vertrauen, die klinisch ausgiebig getestet wurde, deren Nebenwirkungsprofil wir mittlerweile sehr gut kennen und deren Wirkung klar belegt ist“, sagte Immunologe Prof. Carsten Watzl, Leiter des Forschungsbereichs Immunologie im Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund, auf Anfrage unserer Redaktion zum Thema Ivermectin.
Gibt es eine Lösung? Die Nature-Autoren sagen ja. So aufwendig es auch sei: Eine Beurteilung auf Basis individueller Patientendaten (IPD Review) sollte für potenzielle medikamentöse Therapien von COVID-19 bei Meta-Analysen der neue wissenschaftliche Standard werden. Dass das eine jahrzehntealte Forschungspraxis über den Haufen werfe, sei klar, schließen die Autoren. Doch die möglichen Gefahren für Patienten weltweit lassen keine andere Vorgehensweise zu.
Bildquelle: Carla Anne, unsplash