Neurowissenschaftler haben entdeckt, dass neuronale Netzwerke sich in Millisekunden-Geschwindigkeit verändern können. In einer Studie konnten sie die Bedeutung der schnellen Anpassung für die Erholung nach Nervenschädigungen belegen.
Milliarden von Nervenzellen in unserem Gehirn kommunizieren ständig miteinander über ein hochkomplexes Netzwerk neuronaler Verbindungen. Sie bilden die Grundlage für menschliches Denken und Verhalten. Diese Verbindungen können sich ein Leben lang anpassen. Forschende haben sich am Beispiel des Sehens der Frage gewidmet, wie schnell sich funktionelle Gehirnnetzwerke in ihrer Struktur verändern können und welche Auswirkungen diese Veränderungen auf das Sehen haben. Erstautor Prof. Sabel erläutert: „Welchen genauen Weg neuronale Impulse im Netzwerk nehmen – man spricht hierbei von funktionellen Verbindungen – kann sehr unterschiedlich sein, je nach aktueller Anforderung. Die Herausforderung für das Gehirn besteht darin, wie unterschiedliche Hirnareale räumlich und zeitlich miteinander synchronisiert werden können.“ Somit sei es die präzise Synchronisation von dem dreidimensionalen „Raum“ und der „Zeit“ als vierte Dimension, die im Gehirn für Denken und Handeln entscheidend sei – dies könne man als „Raumzeit“ im Gehirn bezeichnen.
Prof. Sabel und sein Team wollten herausfinden, wie schnell sich die Strukturen funktioneller Netzwerke ändern können und ob schnelle Änderungen für das Verhalten von Bedeutung sein können. Dazu untersuchten sie die Hirnaktivitäten sowohl von Gesunden als auch von Patienten mit Sehnervschädigungen. Die Forschenden nutzten für ihre Untersuchungen die Elektroenzephalografie (EEG) zur Ableitung von elektrischen Hirnwellen am Kopf und verglichen die Ergebnisse beider Gruppen zum Zeitpunkt unmittelbar vor und nach der Präsentation eines kurzen Lichtblitzes.
„Wir konnten herausfinden, dass sich während der visuellen Verarbeitung funktionelle Netzwerke im Gehirn extrem schnell bilden und wieder auflösen können, und zwar je nach funktionellem Bedarf in nur wenigen Millisekunden, um so die optimale zeitliche und räumliche Integration von Denken und Verhalten zu ermöglichen. Bei den Erkrankten war diese Netzwerkdynamik gestört, konnte aber durch eine Therapie mittels synchronisierender Mikrostrom-Impulse teilweise wieder normalisiert werden, was eine signifikante Verbesserung der Sehleistung zur Folge hatte“, erläutert Prof. Sabel die Ergebnisse.
Für den Wissenschaftler steht damit fest: „Im Gehirn sind neuronale Aktivitäten in Zeit und Raum miteinander eng verbunden und synchronisiert, und sie beeinflussen sich gegenseitig.“ Laut Prof. Sabel sei dies nicht nur für das Verständnis des menschlichen Geistes von grundlegender Bedeutung, sondern es sei auch klinisch relevant. Dieses „Raumzeit-Konzept“ im Gehirn helfe uns nicht nur zu verstehen, wie die visuelle Verarbeitung und die Erholung bzw. Reparatur der Sehleistung bei Menschen mit Teilerblindung funktioniere, sondern „Raumzeit“ im Gehirn könne als grundlegendes Prinzip der Architektur des menschlichen Geistes verstanden werden.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Universitätsmedizin Magdeburg. Die Originalpublikation haben wir euch hier verlinkt.
Bildquelle: Sebastian Svenson, unsplash.