Neulich las ich einen Zeitungsartikel, der mich ungläubig zurückließ. Darin hieß es, Apotheken seien überteuert und überflüssig – Medikamente könne man besser im Supermarkt kaufen. Ich sehe das kritisch.
Beim Lesen des Artikels „Sind Apotheken noch zeitgemäß?“ von Jonas Prenissel musste ich mehrfach unterbrechen und neu beginnen. Was hier dem Leser in einer renommierten Zeitung für ein dilettantisches Halbwissen, falsche Schlussfolgerungen und undurchdachte Zukunftsphantasien präsentiert werden, ist dermaßen weit weg von der Realität, dass ich immer wieder ungläubig auf die Zeitung starren musste. Ja, es ist tatsächlich die FAZ und nicht die Schülerzeitung der Realschule vom Nachbarort, in der sich ein sechzehnjähriger Schüler über das Apothekenwesen ausgelassen hat.
Prenissel beginnt seinen Artikel mit der Behauptung, die Apotheken seien in der Pandemie „besonders durch die Debatte um digitalisierte Impfpässe und überteuerte Masken in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten“. Dem möchte ich bereits widersprechen. Wir sind in den Blick geraten durch die schnelle und unbürokratische Versorgung mit Desinfektionsmitteln und Masken, dadurch, dass wir für die Bevölkerung immer erreichbar waren, Botendienste gemacht haben, wenn die Menschen in Quarantäne zuhause saßen, jetzt wo die meisten Teststationen dicht gemacht haben, noch immer Coronatests durchführen und nie in den Lockdown gegangen sind. Dafür haben wir – wie auch die Ärzte, Zahnärzte und das Pflegepersonal einen Dank des Bundesgesundheitsministers Spahn erhalten, und auch seitens unserer Patienten viel positive Rückmeldung bekommen. Die Maskenpreise waren übrigens keine in irgendeiner Form mit den Apotheken ausgehandelten Preise, sie wurden von der Politik so vorgegeben.
Der Gesundheitsökonomie-Professor der Universität Heidelberg, Konrad Obermann, wird in diesem Artikel zitiert, da er einen Reformbedarf beim eng geknüpften und angeblich überteuerten Apothekennetz sieht, welches sich Deutschland leistet. Seit dreißig Jahren hätten sich die Kernprozesse bei der Arzneimittelversorgung kaum verändert. Der Jurist Sebastian Kluckert sieht ein europarechtliches Problem bei der Arzneimittelpreisbildung. Er beklagt den fehlenden Wettbewerb. Haben die beiden Herren den 19.10.2016 und das Urteil des EuGH mit all seinen Folgen für die deutsche Vor-Ort-Apotheke etwa verschlafen?
Dann beginnt Prenissel mit an den Haaren herbeigezogenen Vergleichen – es gibt mehr Apotheken (nämlich 18.753) als EDEKA- Filialen (11.000). Was möchte er uns damit sagen? Arzneimittel gibt es ausschließlich in der Apotheke, Lebensmittel kaufe ich außer bei EDEKA auch noch in zahllosen weiteren Lebensmittelmärkten – deutschlandweit in weit über 30.000 Filialen zu denen noch die Bäcker und Tankstellen dazu kommen, die ebenfalls Lebensmittel verkaufen. Käme hier irgendjemand auf die Idee zu sagen, wir haben zu viele Lebensmittelläden und müssten dringend welche schließen? Hat denn die schiere Anzahl der Apotheken einen Einfluss auf die Kosten im Gesundheitswesen? Werden denn weniger Medikamente verordnet und eingenommen, wenn man die Apothekenzahl verringert? Ich denke nicht.
Nun wird der Preis eines Medikamentes auseinandergenommen, das 23,69€ kostet. Von diesem Preis erklärt uns der Autor seien brutto 8,89€ und netto 7,40€ der Lohn für die abgebende Apotheke. Hier vergisst er bereits den gesetzlichen Apothekenabschlag von pauschal 1,77€ abzuziehen – also schlecht recherchiert. Ihm sei hier ein Tutorial für Einsteiger von Prof. Dr. med. Reinhard Busse von der TU Berlin ans Herz gelegt. Was daraus ersichtlich werden würde, ist, dass es für Preiseinsparungen in diesem Bereich wesentlich sinnvoller wäre, die Mehrwertsteuer zu senken. Aber das nur am Rande. Es ist in meinen Augen nämlich unseriös, hier nur ein Extrembeispiel im unteren Preisbereich zu nennen, bei dem die 8,35€ natürlich besonders viel erscheinen. Wäre der Preis des Arzneimittels nämlich höher, wäre der prozentuale Verdienst der Apotheke gemessen am Gesamtpreis des Medikamentes deutlich geringer.
Schön wäre es gewesen, der Autor hätte sich einmal mit den Informationen der ABDA befasst, die einen jährlich aktuellen Blick auf die Preisbildung von Arzneimitteln (dann hätte er auch den Apothekenabschlag gefunden), die Situation der Apotheken und die Kosten gibt, die sie im Gesundheitssystem verursachen. So hätte er auch herausgefunden, dass die Kosten für die GKV-Verwaltungskosten doppelt so hoch sind, wie die Kosten, die für die Apotheken und deren Mitarbeiter übernommen werden. Warum sieht hier eigentlich kaum jemand ein Einsparpotential? Möglicherweise ist deren Lobbyarbeit einfach besser?
Wenden wir uns wieder dem Text zu: Der Autor hat jetzt hinreichend erklärt, warum Apotheken überteuert sind und zum alten Eisen gehören. Jetzt geht es den Apothekern selbst an den Kragen. Er beschreibt das Berufsbild so: Der Apotheker nimmt das Rezept entgegen, liest vom Bildschirm die Einnahmeempfehlungen ab und händigt es dem Patienten aus. Das Beratungsentgelt für eine solche simple Tätigkeit sei somit völlig überzogen. Das könne dann auch eine Supermarktkassiererin für deutlich weniger Geld machen. Wenn es denn so wäre, dann hätte er damit durchaus Recht, aber alleine zu behaupten, dass darin unsere tägliche Arbeit besteht, ist eine Unverschämtheit. Beratung zu den Neben- und Wechselwirkungen ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Berufes und kann definitiv weder von einem Drogerieangestellten, noch von einem Kassierer im Supermarkt geleistet werden. Dann könnte er auch sagen, man könne sich den Hausarzt sparen, da im digitalen Zeitalter ja jeder selbst anhand seiner Symptome ergoogeln kann, was ihm fehlt.
Prenissel behauptet, der abgebende Apotheker habe keinen Überblick über die Arzneimittel, die der Patient einnimmt, und könne daher gar nicht wissen, welche Wechselwirkungen sich im Einzelfall ergeben. Nur dann wäre eine solche Kontrollfunktion an dieser Stelle zu rechtfertigen. Das sehe ich ebenfalls anders. Zum großen Teil handelt es sich bei den Apothekenbesuchern nicht um Laufkundschaft, und die gängige Medikation der Stammkunden ist in den meisten Systemen bereits hinterlegt. Zum anderen wird die elektronische Patientenakte, die ja in absehbarer Zeit implementiert werden wird, sich genau um dieses Problem kümmern, und das pharmazeutische Personal hat dann durchaus einen sehr genauen Überblick darüber, was der Kunde aktuell einnimmt.
Der Autor kommt nun zu seinem genialen Lösungsansatz, die Arzneimittelversorgung in Deutschland preiswerter zu gestalten: die Supermärkte sollen sie abgeben. Kein Scherz. Und nein, es handelt sich hier nicht um einen Satirebeitrag. Deutschlands Supermärkte sollen sich nun ein eigenes Medikamentenlager zulegen (natürlich mit allem Pipapo wie Temperaturkontrollen, sicherer Lagerung usw. nehme ich an?). An der Kasse gibt dann Opa Otto sein Rezept ab, und die Schlange hinter ihm wartet geduldig ab, bis Frau Meier von Kasse 3 ins Lager gelaufen ist, und die passenden Medikamente zusammengesucht hat? Oder gibt es dann dort eine eigene Abteilung neben der Käsetheke, wo die in 14 Tagen ausgebildete Apothekenfachverkäuferin erst einmal die neuesten Rabattverträge gegencheckt? Die korrekte Umsetzung der Rabattverträge der Krankenkassen, die mit ihren verschiedenen Stufen und den Nichtlieferbarkeiten und dem Austauschen verschiedener Arzneiformen durchaus tricky sein kann, spart den Krankenkassen übrigens 5 Milliarden Euro pro Jahr. Meint der FAZ-Autor denn, das die Supermärkte das auch hinbekommen? Viele Medikamente werden außerdem generisch verordnet. Ich amüsiere mich jetzt schon bei der Vorstellung, wie die Apothekenfachverkäuferin auf die Suche nach „Axicabtagen-Ciloleucel“ oder „Gemtuzumab-Ozogamicin“ verzweifelt. Und wenn EDEKA gerade ein Medikament nicht verfügbar hat? Schicken die dann den Kunden zu NETTO weiter?
Dieser Vorschlag ist also selten schlecht durchdacht, um es einmal höflich zu formulieren. Zudem stellt sich für mich die Frage der Erreichbarkeit, denn die Supermärkte befinden sich ja üblicherweise nicht mitten im Wohnbezirk wie die Apotheken, man findet sie eher an der Peripherie, wo sie für ältere Menschen die nicht mobil sind – und gerade die brauche ja ihre Dauermedikation – schlecht erreichbar sind.
Am Schluss plädiert der Autor für ein Zusammenspiel aus örtlicher Apotheke, die Dienstleistungen wie den Maskenverkauf beibehält – natürlich viel billiger als bisher, dem Versandhandel, der speziellere Medikamente an die Kunden ausliefert, die dort per Internet bestellen und Supermärkte, die sich um die Dauermedikation kümmern. Wer die Rezepturen herstellt, bei denen finanziell nichts hängen bleibt, wer die Versorgung von BTM übernimmt und wer sich um das Anmessen von Kompressionsstrümpfen und anderen Dingen kümmert, darüber verliert er keinen Satz. Aber ich denke, das schlecht honorierte darf bei der örtlichen Apotheke bleiben, oder? Wovon die sich dann aber finanzieren sollen, das wird nicht erklärt. Vielleicht dürfen wir uns dann weiter um die Menschen kümmern, die keinen Internetzugang haben oder die eine Versorgung am selben Tag per Botendienst benötigen?
Ich habe wirklich selten so viel Unsinn auf einem Fleck gelesen. Ein funktionierendes, engmaschiges System zu zerschlagen, das die Sicherheit und die Regelmäßigkeit der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung garantiert und das im Notfall auch noch kurzfristig und unbürokratisch mit anderen Dingen betraut werden kann (Digitalisierung der Impfnachweise, Maskenverteilung, Testungen etc.) ist wahnsinnig kurzsichtig. Der Autor preist im Übrigen zwischendurch auch noch einmal das Versorgungssystem in den USA als Vorbild an, da fehlen mir wirklich die Worte. Die wahren Preistreiber für Arzneimittel sitzen woanders. Wer wirklich etwas grundlegendes bewegen will, muss den Hebel dort ansetzen. Aber darum ging es in diesem Artikel wahrscheinlich von Anfang an nicht. Er ist es einfach nicht würdig, in einer renommierten Zeitung wie der FAZ zu erscheinen. Ein Netz, das viel einfangen soll (Sicherstellung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung) benötigt viele Maschen (Apotheken). Es weiter auszudünnen bedeutet, dass dabei viel verloren geht, was die Bevölkerung im Gegenzug mehr kosten wird, als die derzeitige Packungsvergütung für die Leistungen der Apotheken.
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