Was kann man von toten Musikstars lernen? Wie gut verkäuflich ihre Musik ist? Welche Talente der Welt verloren gegangen sind? In Frankfurt und München werden Pharmaziestudenten anhand tragischer Popstar-Todesfälle wichtige pharmakologische Zusammenhänge nähergebracht.
Eine neue Unterrichtsidee. Medizin- und Pharmaziestudenten sollen nicht mehr in langweiligen Pharmavorlesungen stundenlang Medikamente runtergerattert bekommen. Nein, viel interessanter ist es doch, in das Leben von Musikstars einzutauchen. Amy Winehouse, Michael Jackson und Whitney Houston sind gute Beispiele. Warum? Diese Stars konnten nicht nur gut singen. Sie sind auch alle in mehr oder minder jungen Jahren aufgrund von Drogen- und Medikamentenmissbrauch gestorben. Doch wie sehen die genauen Zusammenhänge aus? Wie können Medikamentencocktails einen ins Grab bringen? Auch damit beschäftigt sich die Pharmakologie. Denn dazu muss man die Wirkungsweise der verschiedenen Substanzen kennen und die spielt im Medizin- und Pharmaziestudium eine wichtige Rolle.
Zu Besuch bei Professor Theo Dingermann an der Frankfurter Goethe-Universität. Er hält dort zusammen mit seinem Kollegen Professor Dieter Steinhilber Vorlesungen für Pharmaziestudenten. Dass diese Vorlesungen etwas Besonderes sind, sieht man schon an den Besucherzahlen. Längst sind die Veranstaltungen über Frankfurts Grenzen hinaus bekannt und viele Leute kommen aus anderen Bundesländern extra angereist. Auch Schulen buchen ab und zu die musikalische Aufklärungsstunde der beiden Professoren. Eine gute Gelegenheit für sie, ihre Botschaften zu vermitteln. „Die Menschen sollten mehr Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen“, sagt Dingermann. Und das drückt sich auch in seiner Vorlesung aus. Doch was macht sie so besonders? Schon bevor man den dunklen Hörsaal H3 am Campus Riedberg betritt, hört man von weitem laute Musik: „Then I get night fever, night fever. We know how to do it. Gimme that night fever, night fever. We know how to show it [...].“ Auf der Leinwand im Vorlesungssaal sieht man die drei Gibbs-Brüder, besser bekannt als „Bee Gees“. Mit dem Erfolg kommen aber oftmals auch die Schattenseiten, so Prof. Dingermann. Aber dabei geht es nicht nur um Drogenkonsum, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Die Bee Gees litten noch unter einer anderen Krankheit.
Professor Theo Dingermann erklärt den Studenten, die sich sichtlich über die alten Musikvideos von damals amüsieren, dass die Zwillingsbrüder Maurice und Robin Gibb an Darmkrebs verstarben. Schließlich geht es ja nicht ausschließlich um die Musik, sondern auch der Lerneffekt soll nicht zu kurz kommen. Auf der Leinwand tauchen daraufhin Bilder von Tumoren auf und es geht um die Kanzerogenese. Dingermann erklärt die dualistischen Faktoren, die zur Tumorentstehung beitragen durch ein anschauliches Beispiel. Den Menschen könnten wir uns als Bungeespringer vorstellen, der durch zwei Seile gesichert ist – also die homologen Chromosomenpaare – auf denen jedes Gen zweimal identisch vertreten ist. Nun könnte das eine Seil reißen – also ein Gendefekt vorkommen – was beispielsweise erblich veranlagt sein kann. So fällt der Mensch noch nicht – ist also noch nicht krank, aber es besteht bereits eine sehr viel größere Wahrscheinlichkeit, dass er an einem Tumor erkrankt als Menschen, bei denen beide Gene noch intakt sind. Reißt nun aber auch noch das zweite Seil – wird also das zweite Gen durch bestimmte Umweltfaktoren beschädigt – dann entwickelt der Mensch Krebs. So war es wohl auch bei den Gibbs-Brüdern. Maurice Gibb starb sehr plötzlich 2003 an Darmkrebs, sein Zwillingsbruder Robin kämpfte hingegen jahrelang mit der Krankheit, bevor auch er 2012 starb. An diesem Beispiel lernen die Studenten anschaulich, wie erbliche und exogene Faktoren die Zellen entarten lassen. Bei Darmkrebs spielt, wie bei vielen Krebsarten, immer auch das familiäre Risiko eine Rolle. Davon wussten die Gibbs-Brüder vermutlich noch nichts, heute ist man mit der Forschung schon viel weiter. Immerhin gibt es heutzutage auch anerkannte und nützliche Therapien, auf die Dingermann ausführlich eingeht. Beispielsweise kann man zur Therapie von Darmkrebs monoklonale Antikörper wie Cetuximab einsetzen. Oder auch Bevacizumab, einen Angiogenesehemmer. Mit einer Halbwertszeit von mehreren Tagen bis Wochen dauert es, bis diese anschlagen, aber immerhin haben Studien bewiesen, dass sie das progressionsfreie Überleben bei kolorektalem Karzinompatienten verlängern können.
Gegen Ende der Vorlesung werden die Bee Gees nochmals mit einem Abschlusssong gewürdigt. Man merkt, dass Dingermann ein Fan ist. Der Apotheker, der zugleich Professor für Biochemie und Molekularbiologie ist, erklärt, wie er auf die Idee kam, Musiker in seine Vorlesung einzubauen: „Ich glaube, für Studenten ist das Musikformat das Beste", sagt er. Die Biografie eines interessanten Menschen präge sich leichter ein, teilweise kennen die Studenten die Leidensgeschichte ihrer Stars auch schon. Deshalb analysiert Dingermann in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Steinhilber für die Studenten das Leben von Persönlichkeiten wie Michael Jackson, Joe Cocker, Elvis Presley, Freddie Mercury, Bob Marley, George Harrison oder eben der Bee Gees. Außerdem lernen die Studenten hierbei auch, die Finger von vermeintlich lustigen Drogenspielchen, Medikamenten- und Alkoholkonsum zu lassen. Es brauche häufig nur gesunden Menschenverstand, Abhängigkeiten zu meiden, so Dingermann. Das war Michael Jackson wohl nicht ganz klar. Der King of Pop starb an einer Überdosis des Betäubungsmittels Propofol. Neben dem Narkotikum fanden sich auch noch zwei weitere Beruhigungsmittel, darunter Valium, im Körper des 50-Jährigen. Dieser Medikamentencocktail führte nach jahrelanger Abhängigkeit des Musikers schließlich zum Herzstillstand. Das Fatale daran ist, dass ausgerechnet sein Kardiologe Conrad Murray Michael die tödliche Dosis von 25 Milligramm Propofol gegen Schlafstörungen spritzte und sich somit der fahrlässigen Tötung schuldig machte. Damit das den Studenten in ihrer Karriere nicht passiert, ist es umso wichtiger, die genauen Dosierungsgrenzen und Wechselwirkungen dieser Medikamente zu kennen. Sehr häufig sind es zudem gerade die legalen Medikamente gegen Schlafstörungen oder Depressionen, die man leicht verschrieben bekommt, die das größte Abhängigkeits- und auch Suizidpotential bei den Patienten entwickeln.
So ging beispielsweise auch an Elvis Presley der Erfolg nicht spurlos vorbei. Der King of Rock’n’Roll kam gegen seine Abhängigkeiten nicht an. Dabei handelte es sich allerdings nicht um Alkohol oder Drogen. Elvis war medikamentenabhängig und hatte dazu noch eine ungesunde Leidenschaft für fettiges Essen. Dazu der Mix aus Medikamenten - in Elvis’ Todesjahr verschrieb ihm sein Leibarzt über 10.000 Pharmaka – und schon war der Grundstein für ein ungesundes Leben gelegt. Das exzessive Essen führte dazu, dass Elvis zunahm und aufgedunsen wirkte. Die zahlreichen Schmerzmittel, Psychopharmaka und Schlaftabletten taten den Rest. Dexedrine und Biphetamine sollten ihn zum Funktionieren bringen, mit Quaalude und Amytal wollte er wieder zur Ruhe kommen und mit Percodan und Dilaudid trieb er sich bis an den Abgrund. Der Musikstar entwickelte alle Anzeichen des Metabolischen Syndroms. Elvis wurde nicht nur übergewichtig mit bis zu 150 kg Körpergewicht, sondern er bekam auch Diabetes, Hypertonie und Stoffwechselstörungen. Er hatte grünen Star, war deshalb kurz vor seinem Tod fast blind und er litt unter Herzproblemen, einem stark vergrößerten Darm, Leberverfettung, Arthritis, Atemproblemen und zahlreichen anderen Symptomen. Das wurde seinem Körper irgendwann zu viel und Elvis starb 1977 mit 42 Jahren in seinem Badezimmer an Herzversagen. Ob eine gewisse Veranlagung eine Rolle spielte oder nicht, lässt sich im Nachhinein nicht feststellen. Dingermann erklärt, dass ein großer Anteil der Ausprägung des Körpergewichts Erbanlagen geschuldet sei, aber besonders relevant seien Umweltbedingungen. Prävention sei ebenso wichtig. Gerade in Zeiten, in denen mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung übergewichtig sei, ein Viertel sogar fettleibig.
Doch nicht nur Medikamentenabhängigkeit und Übergewicht sind eine schlechte Kombination. Besonders Alkohol kann in falscher Dosierung erheblichen Schaden anrichten. Alkohol kann von einigen Medikamenten, wie beispielsweise den Benzodiazepinen, die Selbstlimitierung aufheben, sodass man sich mit den - in normaler Verabreichung nicht lebensgefährlichen - Pharmaka auch umbringen kann. Verabreicht man das Getränk zusammen mit Wirkstoffklassen wie Z-Substanzen und Barbituraten, die per se schon starke Abhängigkeit auslösen, ist die Todesgefahr mindestens genauso groß. So starb auch Whitney Houston. Die Sängerin konsumierte Alkohol, Kokain und andere Mittelchen wie Marihuana und die Beruhigungsmittel Xanax und Benadryl. Daraufhin wurde sie ohnmächtig, erlitt wahrscheinlich eine Herzattacke und ertrank in ihrer Badewanne. Doch auch purer Alkohol hat schon bei so manchen Stars zum Tod geführt. Beispiel Amy Winehouse. Die berühmte Sängerin war starke Alkoholikerin und starb 2011 an den Folgen ihres massiven Konsums. Man fand mehr als vier Promille Alkohol in ihrem Blut. „Die hat sich totgesoffen“, konstatiert Dingermann ohne Umschweife. In jungem Alter von 27 Jahren erlangte Amy so traurige Berühmtheit. Doch sie war nicht nur dem Alkohol verfallen. Die Sängerin war jahrelang drogensüchtig. Wegen ständiger Eskapaden wurde sie oft ins Krankenhaus eingewiesen. Heroin, Kokain und Alkohol waren ihre ständigen Begleiter.
Doch nicht nur an der Universität Frankfurt lernen Studenten an Beispielen von berühmten Musikern die Auswirkungen von Medikamenten- und Drogenmissbrauch. Auch in München gibt es an der TU Pharmakologievorlesungen der ganz besonderen Art. Hier zeigt man passende Filmausschnitte, um den langweiligen Wirkstoffmechanismen Biss zu verleihen. Anna R., Medizinstudentin im 5. Semester, zeigt sich wirklich begeistert von dem Unterricht: „Die Filmausschnitte in einiger unserer Pharma-Vorlesungen finde ich klasse. Viele Kommilitonen kommen sogar nur deswegen in den Hörsaal. Man kann die genannten Medikamente so gleich mit einer berühmten Szene verknüpfen und sich so viel besser merken.“ Auch Leopold M. aus dem 6. Semester stimmt ihr zu: „Das ist einfach ein super Konzept. Wenn ich in der Vorlesung eine Folge von Dr. House gezeigt bekomme, die ich mir zuhause schon mehrfach angesehen habe, und dann erst lerne, was es eigentlich mit den ganzen Wirkstoffnamen auf sich hat, die da immer runtergerattert werden, kann ich mir sie viel leichter einprägen [...].“ Neulich zeigte einer der Professoren beispielsweise die berühmte Szene aus Pulp Fiction, in der Mia Wallace eine Überdosis Heroin schnupft, da sie es für Kokain hält, davon kollabiert und schlussendlich mittels einer Adrenalininjektion direkt ins Herz wiederbelebt wird. „Diese Szene hat der Professor mit uns haarklein analysiert“, berichtet Leopold.
Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Professoren versuchen, ihre Vorlesung durch moderne Filmsequenzen interessanter zu gestalten. „Da haben wir echt Glück“, meint Anna. Leopold ergänzt: „Einer der Professoren meinte einmal zu mir, dass er selbst schon in seiner Pharma-Vorlesung damals Filmausschnitte gezeigt bekam und es für ihn gerade diese Inhalte waren, die ihm am Besten in Erinnerung blieben. Er wolle das an uns Studenten weitergeben.“ Zudem könne man manche Dinge wie neurologische Symptome etwa gar nicht richtig vermitteln, ohne einen Patienten – und sei es nur im Film – zu zeigen. Andererseits wären die Filme auch gut, um einfach mal die Monotonie der Vorlesung zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit der Studenten zu wecken. „Und das tun sie auch“, bestätigt Anna. „Sieht man zuvor Bekanntes aus einem anderen Blickpunkt, ist es einfach viel interessanter. Bisher haben wir bei unserer internen Evaluation nur positives Feedback zu den Vorlesungen mit Filmausschnitten gegeben.“ Da können sich alle anderen Vorlesungen in der Medizin wohl mal eine Scheibe abschneiden. So kann man Studenten mit ganz einfachen Mitteln für das Lernen der pharmakologischen Zusammenhänge begeistern. Auch Leopold meint: „Es wäre sehr wünschenswert, wenn es so was an jeder Uni gäbe.“