TEIL 2 | Der Kieferorthopäde riet mir, bei meinem Sohn wegen seines kleinen Kiefers Zähne ziehen zu lassen. Stattdessen wagten wir einen Selbstversuch. Das Ergebnis seht ihr hier in Bildern.
In meinem vorangegangenen Blogeintrag hatte ich über die Theorie berichtet, dass ein Mangel an Muskulatur eventuell ein Grund für die aktuelle „Klammer-Epidemie“ sein könnte. Hier möchte ich darüber berichten, wie ich bislang versucht habe, diese Theorie in die Praxis umzusetzen (und wo die Probleme/Fallstricke liegen und lagen):
Wie schon erwähnt, bin ich nur wegen meines Kindes auf die Idee gekommen, mich damit zu beschäftigen. Der Kieferorthopäde hatte uns mit einem ziemlich lapidaren „wir ziehen jetzt erstmal die 2er und 3er und dann schauen wir mal“ abgespeist, der Zahnarzt wirkte davon aber wenig begeistert. Also hatte ich mit dem Zahnarzt überlegt, ob wir riskieren können, mit dem Ziehen ein paar Monate zu warten. In der Zeit wollten wir dann schauen, ob wir etwas mit der Logopädie erreichen können.
Wobei das schon schwieriger war als gedacht – ich hatte keine Ahnung, womit ich überhaupt anfangen musste und wie man das „richtig“ trainiert. Und die erste Logopädin, die ich nach einem Termin fragte, teilte mir direkt mit, dass Logopädie alleine eh keine Zähne bewegen würde. Logopädie sei „allenfalls eine unterstützende Maßnahme zur Spange“. Was mich etwas (ver-)zweifeln ließ: War ich so auf dem Holzweg?
Glücklicherweise fand ich eine andere Logopädin, die mir direkt sagte, dass es zwar möglich, aber sehr anstrengend/hart sei, weil es sehr viel Aufwand und Disziplin erfordere. Ja, beide Aussagen kann ich inzwischen bestätigen. Uneingeschränkt.
Um zu vermeiden, dass ich mich nur selbst betrüge, weil ich einfach keine gesunden Zähne bei einem 8-jährigen Kind ziehen lassen möchte, habe ich Fotos gemacht. Der Gedanke war, dass man sich keine Verbesserung einbildet, sondern wirklich eine Veränderung – zumindest in Form von Fotos – dokumentieren kann. Quasi als „Qualitätskontrolle“. Ein paar dieser Bilder möchte ich hier zeigen.
Die Bilder dokumentieren einen Zeitraum von 16 Wochen. Danach hatten wir eine Kieferorthopädin gefunden, die uns jetzt unterstützt, indem eine aktive Platte/lose Zahnspange nachts getragen wird, während tagsüber die Logopädie zum Zug kommt. Aufgrund der massiven Fehlstellung (der zweite Frontzahn rechts kommt in der „2. Reihe“, was man auf den Bildern nicht gut sehen kann) waren wir uns mit der Kieferorthopädin einig, dass Logopädie alleine wahrscheinlich zu wenig ist.
Auch wenn mein Kind nur ein Einzelfall ist und keine wissenschaftliche Studie, sieht man auf den Bildern, dass sich speziell der linke Frontzahn deutlich dreht. Man kann auch anhand der abnehmenden Zahnüberdeckung erahnen, dass der Überbiss sich deutlich gebessert hat, aber die Profilbilder, auf denen man das noch besser sieht, möchte ich aus Anonymitätsgründen nicht zeigen.
Was für mich eine angenehme Überraschung war: Mein Kind klagte während der ausschließlichen Logopädie-Phase trotz der Zahnbewegungen nicht ein einziges Mal über Schmerzen. Bei Zahnspangen ist es häufig so, dass die Zahnbewegungen durchaus mit Schmerzen verbunden sind.
Die logopädischen Übungen, die wir gemacht haben, entsprachen hauptsächlich dem „funktionellen Mundprogramm“ (FMP), was sich wiederum zu einem großen Teil an das Programm von Padovan anlehnt. Dabei geht es vor allem um die Einübung von komplexeren Abläufen (z.B. Trinken) und nicht nur um einzelne Teilaspekte wie „Zunge heben“. Auch auf die Haltung des restlichen Körpers und den Muskeltonus wird dabei Wert gelegt, was den Effekt verstärken soll. Inzwischen habe ich auch mitbekommen, dass auch das Programm nach Castillo-Morales sich viel mit diesen Aspekten beschäftigt.
Zusätzlich haben wir noch versucht, einige Aspekte des „GOPEX“ (Good Oral Posture Exercises) Programms umzusetzen. In diesem Programm geht es vor allem darum, sich „gute Gewohnheiten“ anzugewöhnen, indem man z.B. beim Lesen oder Zählen gezielt Pausen macht, in denen die Zunge sehr bewusst dann in die richtige Ruheposition gelegt und durch die Nase geatmet wird.
Außerdem gehört dazu, dass man sich täglich bewusst Zeit zum Kauen nimmt – und zwar „Kauen, als würde man es ernst meinen“. Ich fand es ehrlich gesagt gar nicht so leicht, dafür abwechslungsreiche Lebensmittel zu finden. Nudeln, Brot, Käse, Müsli – das meiste hat allenfalls „ein bisschen Biss“. Rohkost geht, ansonsten habe ich inzwischen auch viel Gedörrtes zu Hause, auf dem die Kinder rumkauen können. Kaugummi fand ich auch nicht so einfach – viele Kaugummis werden doch sehr schnell sehr weich.
Mein Fazit nach einem Jahr intensiver logopädischer Übungen (ein halbes Jahr mit regelmäßigen Terminen, jetzt hauptsächlich Weiterführen in Eigenregie mit gelegentlichem Kontakt zur Logopädin):
Es ist sehr, sehr anstrengend. Aber ich finde, dass es sich gelohnt hat und weiterhin lohnt. Man merkt, dass die lose Zahnspange weniger „drücken“ muss, wenn die Logopädie die Arbeit übernimmt. Dann ist es auch weniger schmerzhaft. Aber ja, diese 15 Minuten jeden Tag nerven oft auch. Ich hoffe (und glaube) aber, dass es ein nachhaltigerer Weg ist, wenn man die Muskulatur entwickelt, statt nur die sichtbaren Zahnfehlstellungen zu beheben.
Leider sind die meisten meiner Patienten in einem Alter, wo der Großteil dieses Wachstums abgeschlossen ist. (Auch wenn es gerade im englischen Sprachraum wohl Kieferorthopäden gibt, die auch da noch eine Kieferverbreiterung anstreben). Dies sei wohl möglich, da die Gaumenmittelnaht erst sehr spät im Erwachsenenalter verknöchert und somit grundsätzlich noch Knochenwachstum möglich sei.
Aber ganz ehrlich: Ich bin Hausärztin, keine Kieferorthopädin. Aus solchen Dingen halte ich mich definitiv raus.
Ich mache selbst die Übungen mit meinen Kindern und habe auch das Gefühl, dass sich mein Überbiss, Lippenschluss und Nasenatmung damit deutlich gebessert hat. Insofern selbst für eine 40-jährige wie mich ein Erfolg, aber nicht annähernd in dem Ausmaß wie bei meinem Kind.
Die häufigste Anwendung ergab sich für mich im Bereich von Schnarchen und Schlafapnoe. Wir haben häufiger Patienten, die z.B. stark unter dem Schnarchen leiden, aber es eigentlich keine Indikation für ein CPAP-Gerät gibt oder die mit dem Gerät nicht klarkommen. Aus welchem Grund auch immer (häufig: Unruhiger Schlaf, Undichtigkeiten trotz verschiedener ausprobierter Masken, etc.). Solchen Patienten erzähle ich inzwischen häufiger von dieser Theorie und bespreche, was man (neben der Unterkieferprotrusionsschiene) ggf. machen könnte, um eine Alternative zum CPAP zu bieten. Eine seit Jahren immer mal wieder diskutierte Möglichkeit wäre natürlich, ein Blasmusikinstrument zu lernen, da dadurch die Rachen/Schlundmuskulatur deutlich gekräftigt wird. Aber das macht natürlich allein aus Zeitgründen kaum jemand.
Eine Alternative sind Silikon-Vorhofplatten wie z.B. der „Face Former“. Damit wird die Schlundmuskulatur und vor allem der Lippenschluss trainiert und gleichzeitig bei nächtlichem Tragen die Nasenatmung gefördert. Auch da gibt es eine (kleine) Studie, die einen sehr positiven Einfluss auf die Atemaussetzer gezeigt hat.
Leider habe ich selbst in der Praxis keine Möglichkeit, die Anzahl an Atemaussetzern zu messen (und die Kollegen haben leider so viel zu tun, dass ich nicht andauernd Patienten schicken kann, um die Wirksamkeit zu prüfen). Die Rückkopplung von unseren wenigen Patienten ist aber ziemlich gut (und eine Patientin, die die Anzahl an Atemaussetzer über ihr CPAP-Gerät ablesen konnte, berichtete von einer Halbierung von 10 Atemaussetzern pro Stunde auf 5 durch die Vorhofplatte).
... Aaaaber …
Das größte Problem ist das Durchhalten. Bei Muskeln gilt ganz klar „use it or lose it“ – entweder man benutzt die Muskeln, oder man verliert sie (wieder). Bei meinem Kind hänge ich natürlich selbst sehr stark dahinter. Weil ich aus eigener, bitterer Erfahrung weiß, was ihm droht, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen.
Bei meinen Patienten kann ich das natürlich nicht. Ich kann immer wieder werben und gerade anfangs merken die Leute auch, dass es besser wird (bzw. sagen mir das so). Aber das Leben ist ja bekanntermaßen ein Marathon. Das dauerhafte Durchhalten der Übungen ist schwierig, da sie speziell „gemacht werden müssen“ und nicht wie früher einfach Teil des Lebens sind. Früher ergab sich das Muskeltraining direkt durch das Essen, Singen, etc. Heute muss es separat geübt werden (noch ein Termin mehr im überfüllten Kalender).
Deswegen gehe ich (leider) nicht davon aus, dass es sich bei Erwachsenen als Routine-Therapie etabliert. Aber zumindest für Einige wäre dieses „Kiefer/Logopädietraining“ meiner Meinung nach eine Option, die man (entsprechend begleitet) zumindest versuchen könnte. Definitiv bei kleineren Kindern, um vor kieferorthopädischen Behandlungen erstmal die muskuläre Grundlage zu schaffen und vielleicht auch weiterhin begleitend. Und vielleicht eben auch als Ergänzung bei der Schlafapnoe-Therapie.
Zu Teil 1 des Artikels kommt ihr hier:
Bildquelle: Moses Vega, unsplash