Immer mehr Menschen werden immer früher kurzsichtig. Experten machen stundenlanges Lesen, Fernsehen und Arbeiten am Computer sowie zu wenige Aufenthalte im Freien dafür verantwortlich. Eine Studie zeigt, dass eine geringe Menge Atropin kurzsichtigen Kindern helfen könnte.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Anzahl kurzsichtiger Menschen stark zugenommen. Experten schätzen, dass in den westlichen Industrienationen mindestens ein Drittel der Bevölkerung kurzsichtig ist, in einigen fernöstlichen Metropolen liegt der Anteil sogar bei 90 Prozent. Ursache der weit verbreiteten Sehschwäche ist fast immer ein zu langer Augapfel, in dem sich parallel einfallende Lichtstrahlen schon vor der Netzhautebene vereinen und deshalb auf der Netzhaut nur ein verschwommenes Bild ergeben. Je früher die Kurzsichtigkeit im Kindesalter einsetzt, desto mehr Sehkraft geht bis zum Erwachsenenalter verloren. Normalerweise wächst der Augapfel bei den Betroffenen bis zum 20. Lebensjahr, bei einigen Patienten kommt der Prozess allerdings erst mit 30 Jahren zum Stillstand. Mit jedem Millimeter Längenzuwachs des Augapfels nimmt die Kurzsichtigkeit um 3 Dioptrien zu. Schon lange wird diskutiert, ob bei Kindern und Jugendlichen ein Übermaß an Aktivitäten im Nahbereich – also stundenlanges Lesen, Fernsehen oder Arbeiten am Computer – die Entstehung einer Kurzsichtigkeit begünstigt. Dies könnte erklären, warum immer mehr Menschen in den Industrienationen eine Kurzsichtigkeit aufweisen und dieser Anstieg eng mit einem hohen Bildungsstand verbunden ist.
Wie kürzlich ein Forscherteam des Singapurer National Eye Centers gezeigt hat, könnten geringe Mengen des Nervengifts Atropin helfen, das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bei Kindern zu verlangsamen. Die Augenärzte um Audrey Chia und Donald Tan untersuchten im Rahmen einer randomisierten Studie 400 kurzsichtige Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Sie teilten die Patienten in drei Gruppen ein und gaben diesen über einen Zeitraum von zwei Jahren jede Nacht Augentropfen mit 0,5, 0,1 oder 0,01 Prozent Atropin. Weder Ärzte noch Studienteilnehmer wussten, wer welche Konzentration erhielt. In Abständen von vier Monaten untersuchten die Ärzte die Sehfähigkeit der Patienten. In allen drei Gruppen konnte das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit in einem ähnlichen Ausmaß gebremst werden. Anschließend setzten die Forscher bei allen Studienteilnehmern die Atropin-Tropfen ab und begannen so mit einer Auswaschphase. Wie Chia und ihre Kollegen im Fachmagazin American Journal of Ophthalmology berichteten, entwickelte sich die Kurzsichtigkeit in den folgenden zwölf Monaten weniger stark bei den Patienten, die die am geringsten dosierte Atropin-Lösung bekommen hatten, als bei den anderen beiden Patientengruppen. Auch die Länge des Augapfels nahm in der Gruppe mit der geringsten Atropin-Konzentration am wenigsten zu.
Nebenwirkungen wie eine allergische Bindehautentzündung traten bei den Studienteilnehmern nur in sehr geringem Umfang auf. „Besonders die Therapie mit der 0,01-prozentigen Atropin-Lösung weist ein gutes Risiko-Nutzen-Profil auf“, sagt Frank Schaeffel, Leiter der Sektion für Neurobiologie des Auges am Forschungsinstitut für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen. „Dass Atropin bei Kurzsichtigkeit hilft, war schon seit langem bekannt, doch die beobachteten positiven Effekte waren immer nur von kurzer Dauer, da die Atropin-Konzentration der verwendeten Lösungen viel zu hoch waren.“ Noch nicht veröffentlichte Ergebnisse der Singapurer Forscher deuteten daraufhin, dass die Studienteilnehmer von der Therapie mit der 0,01-prozentigen Lösung selbst drei Jahre nach dem Absetzen der Tropfen profitierten, sagt Schaeffel, der in Kontakt mit Chia steht. Er empfiehlt die Anwendung der Tropfen bei kurzsichtigen Kinder im passenden Alter – allerdings nur als Ergänzung: „Kinder sollten, statt nur auf Bücher oder Bildschirme zu starren, möglichst viel Zeit im Freien verbringen, wo sie bei viel Licht häufig in die Weite blicken können.“ Der Aufenthalt außerhalb geschlossener Räume könnte tatsächlich die Sehkraft erhalten. Denn die Konzentration des Neurotransmitters Dopamin wird über die Helligkeit gesteuert: „Bei wenig Licht und schlechten Bildkontrasten fällt der Dopaminspiegel und der Augapfel fängt an zu wachsen“, erklärt Schaeffel.
Aber noch weitere Substanzen und molekulare Regelkreise beeinflussen die Entstehung der Sehschwäche. Glukagon hemmt und Insulin verstärkt die Kurzsichtigkeit, wie Tierversuche mit Hühnern ergaben. Muskarinische Rezeptoren vermitteln mithilfe des Neurotransmitters Acetylcholin Wachstumsreize und werden durch Atropin und Pirenzepin blockiert. Pirenzepin wirkt weniger stark als Atropin und zeigte vor einigen Jahren in mehreren klinischer Studien einen geringen Effekt bei kurzsichtigen Kindern. „Die Forscher haben den Fehler gemacht, die Substanz immer höher zu dosieren, um deren Wirkung zu verbessern, aber ohne Erfolg“, berichtet Schaeffel. „Wahrscheinlich verhält Pirenzepin sich ähnlich wie Atropin und würde bei sehr niedrigen Dosierungen die besten Effekte zeigen.“ Letztendlich, so der Forscher, sei es nicht einfach, die Kurzsichtigkeit medikamentös zu behandeln, da an ihrer Entstehung viele molekulare Signalwege beteiligt seien. Schaeffel: „Mit einer einzigen Substanz dieses Netzwerk zu unterbrechen und das auch möglichst ohne Nebenwirkungen, ist kaum erreichbar.“
Genetische Faktoren scheinen bei der Kurzsichtigkeit eine geringere Rolle zu spielen als Umwelt und Bildungsstand. In einer klinischen Studie verglichen Forscher der Universität Mainz den Bildungsgrad und die Sehfähigkeit von 4.658 Personen im Alter von 35 bis 74 Jahren und testeten diese zusätzlich auf das Auftreten von 45 Genvarianten, die mit einem erhöhten Risiko für Kurzsichtigkeit in Verbindung gebracht werden. Wie die Forscher um Alireza Mirshahi im Fachmagazin Ophthalmology mitteilten, hatte das Vorhandensein von Risikogenen nur einen sehr geringen Einfluss auf die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit im Vergleich zum Bildungstand: Rund die Hälfte der getesteten Teilnehmer mit Abitur war kurzsichtig, aber nur gut ein Viertel derjenigen ohne höheren Schulabschluss. Originalpublikationen: Atropine for the treatment of childhood myopia: changes after stopping atropine 0.01%, 0.1% and 0.5% A. Chia et al.; Am J. Ophthalmol, doi: 10.1016/j.ajo.2013.09.020; 2014 Myopia and level of education: results from the Gutenberg Health Study A. Mirshahi et al.; Ophthalmology, doi: 10.1016/j.ophtha.2014.04.017; 2014