Die Chronifizierung von Schmerzen wird durch einen zellulären Mechanismus im Gehirn ausgelöst. Ein Eiweißmolekül im Gyrus Cinguli triggert dabei den spezifischen elektrischen Impuls in den Nervenzellen. Durch gezielte Manipulation könnte dies künftig reguliert werden.
Bei vielen Patienten mit chronischen Schmerzen fehlen bisher wirksame Therapieansätze. „Die permanenten Schmerzen sind eine grosse psychische und emotionale Belastung für die Patienten“, erläutert Thomas Nevian vom Institut für Physiologie der Universität Bern. „Bis anhin verstanden wir ihre Entstehung aber noch nicht vollständig.“ Diesem Ziel ist man nun näher gekommen: Ein zellulärer Mechanismus im Gehirn von Mäusen wurde entdeckt, der zur Chronifizierung von Schmerzen beiträgt. Auf dieser Grundlage ist es den Forschern gelungen, einen neuen, vielversprechenden Therapieansatz für chronische Schmerzen zu entwickeln. Die Veränderungen der Nervenzellen bei chronischen Schmerzen wurden im Gyrus Cinguli untersucht. Dabei spielt die Ausbildung eines „Schmerzgedächtnisses“ eine entscheidende Rolle, wie Nevian ausführt: „Die Nervenzellen, die ständig durch Schmerzreize aktiviert werden, bilden eine Gedächtnisspur für den Schmerz, die sich nicht mehr zurückbildet. Unsere Idee war es, diesen Mechanismus besser zu verstehen, um daraus potentielle neue Therapien herzuleiten.“
Daher wurde gezielt nach Veränderungen der elektrischen Eigenschaften der Nervenzellen im Gyrus Cinguli gesucht und gefunden. Chronische Schmerzen führen zu einer leichteren Erregbarkeit der Nervenzellen im untersuchten Hirnareal. Diese Veränderung konnte auf einen bestimmten Ionenkanal zurückgeführt werden. Dabei handelt es sich um ein Eiweißmolekül in der Membran einer Nervenzelle, welches ihre elektrischen Eigenschaften bestimmt. Die Funktion des untersuchten Ionenkanals war bei chronischen Schmerzen reduziert. Das führte dazu, dass Nervenimpulse leichter ausgelöst wurden und steigerte somit das Schmerzempfinden.
Die Wissenschaftler versuchten, diesen Ionenkanal zu manipulieren und dessen Funktion wieder herzustellen. Indem sie einen bestimmten Rezeptor für den Botenstoff Serotonin aktivierten, gelang es ihnen, die normalen Eigenschaften der Nervenzellen wieder herzustellen und die Schmerzwahrnehmung im Tiermodell zu reduzieren. „Es ist seit einiger Zeit bekannt, dass Serotonin Schmerzen verringern kann, der Wirkmechanismus einiger Medikamente basiert darauf“, erklärt Thomas Nevian. „Wir konnten nun einen spezifischen Serotoninrezeptor identifizieren, der die Schmerzwahrnehmung besonders wirksam beeinflussen kann. Dies ist ein sehr wichtiges Resultat, das die Therapie chronischer Schmerzen wesentlich effizienter machen könnte.“
Die Ergebnisse zeigten laut dem Berner Physiologen auch einen neuen Wirkmechanismus für bekannte Schmerzmedikamente auf, die zur Klasse der sogenannten trizyklischen Antidepressiva gehören. Bisher wurde angenommen, dass diese Medikamente ihre Wirkung an den Schmerzrezeptoren und im Rückenmark entfalten. Neu ist, dass sie auch einen direkten Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung im Gehirn haben können. „Es wird allerdings noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis neue Medikamente gegen chronische Schmerzen zur Verfügung stehen“, betont Thomas Nevian. Originalpublikation: Dysfunction of cortical dendritic integration in neuropathic pain reversed by serotoninergic neuromodulation Thomas Nevian et al.; Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2015.03.003; 2015