Ständig treten neue Varianten des SARS-CoV-2 auf. Aber wie wird sich das Virus weiter entwickeln? Wird es schwächer oder doch gefährlicher? Ein Ausblick.
Zu Beginn der Corona-Pandemie und vor dem Hintergrund der noch sehr dürftigen Datenlage, sagte der RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler Mitte Februar 2020 auf einer Pressekonferenz, das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 werde „wie eine schwere Grippewelle durch Deutschland laufen“. Mittlerweile sieht die Lage etwas anders aus. Prof. Christian Drosten, Institutsdirektor der Virologie an der Charité, prognostizierte bereits Ende Januar 2020: „Es würde mich nicht wundern, wenn es dazu käme, dass sich das nicht mehr aufhalten lässt. Da sollte man sich nichts vormachen“.
SARS-CoV-2 ist mutiert, mehrmals – und wurde dadurch nicht unbedingt harmloser. Viele Varianten sind infektiöser, virulenter und weisen Immunevasionsmutationen auf. Die Liste für Variants of Concern (VOC) umfasst bereits vier Varianten, die Liste für Variants of Interests (VOI) fünf Mutanten. Die aktuell besorgniserregendste Variante Delta ist ziemlich anders als das ursprüngliche Virus, das Ende 2019 in Wuhan entdeckt wurde. Große Hoffnungen wurden in die Impfkampagne gelegt, die jedoch weltweit noch nicht genug ausgerollt wurde. Das bietet insbesondere in Ländern, die kein so gutes Versorgungssystem, Hygienestandards und Möglichkeiten für Testungen und Sequenzierungen wie wir hierzulande haben, eine Grundlage für neue Infektionsherde und die Bildung neuer Varianten.
Vorreiter für alle bisher kursierenden Varianten ist die D614G-Mutation, die das Virus bereits recht früh in der Pandemie etwas infektiöser machte. Diese Mutation verbreitete sich rasant um die Welt. Ende 2020 identifizierten Forscher eine neue Variante in Kent, UK, mittlerweile bekannt als Alpha. Sie war um 50 % infektiöser als das bisher erfasste Virus. Im Frühjahr 2021 wurde dann Delta erstmals in Indien erfasst – und sollte nochmal 40 % bis 60 % infektiöser als Alpha sein. Mittlerweile handelt es sich hierbei um die weltweit dominierende Variante.
„Diese Mutationen zeigen, dass das Originalvirus nicht komplett auf eine Pandemie angepasst war“, erklärt Prof. Friedemann Weber vom Institut für Virologie der Justus-Liebig-Universität Giessen den DocCheck News auf Nachfrage. „Die D614G-Mutation war die Erste, die sich weltweit durchgesetzt hat, und dafür sorgte, dass sich das Spike-Protein besser an den Rezeptor setzt. Bei N501Y ist es wahrscheinlich auch so. E484K ist eine typische Immunescape-Mutation. Mittlerweile ist das schon eine Art Grundausstattung.“ Die Delta-Variante verfüge allerdings über keine der letzteren beiden Mutationen, erzählt der Virologe. Wohl aber die Mutation P681R, die dafür sorge, dass Delta schneller in die Zelle eindringen kann.
In diesem Zusammenhang erläutert Weber auch, dass die Alpha-Variante „aus dem Nichts mit einem ganzen Satz neuer Mutationen“ aufgetaucht sei. Dies deute darauf hin, dass jemand chronisch infiziert gewesen sein muss, sodass das Virus genug Zeit hatte, ausreichend vorteilhafte Mutationen zu etablieren und viele weitere Menschen zu infizieren.
In seinem NDR-Podcast vom 9. Juni 2020 sagte Drosten optimistisch gestimmt: „Erfahrungsgemäß werden Virus-Epidemien über die Zeit harmloser“. Einen Satz wie diesen hört man häufig, doch nicht immer ist das der Fall. Die neuen Varianten sorgen nämlich auch für mehr schwere Verläufe von COVID-19. Es wäre auch nicht der erste Fall, bei dem eine sich schnell ausbreitende Krankheit gefährlicher wird: Die spanische Grippe im Jahr 1918-1919 sorgte mit der Zeit ebenfalls für mehr schwere Erkrankungen.
Man sagt oft, dass Viren sich deshalb harmloser entwickeln, weil sie den Wirt nicht umbringen „möchten“ und um sich vermehrt zu verbreiten. „Diese Aussage ist nicht falsch, aber viel zu pauschal“, sagt Weber. „Viren veranstalten ein genetisches Rennen. Wer nicht genug Nachkommen produziert, stirbt aus. Wir sehen nur die, die genug Nachkommen produzieren.“
Es gab bereits einige virale Ausbrüche, von denen wir mehr über Virus-Evolution lernen können und so Vorhersagen treffen können: Von Viren, die im Verlauf ihrer Evolution viel infektiöser und gefährlicher für den Menschen werden bis hin zu Viren, die harmloser werden. Zwei der am besten untersuchten Beispiele spielten sich 1960 und 1996 in Australien ab: Die Myxomatose, ausgelöst durch das Leporipoxvirus myxomatosis, und die Rabbit Haemorrhagic Disease (RHD), ausgelöst durch das gleichnamige Virus. In Australien wurden die Viren ausgesetzt, um die invasive europäische Kaninchenpopulation zu dezimieren. Das Myxomatosevirus tötete zunächst mehr als 99% der infizierten Kaninchen, wurde jedoch harmloser über die Zeit – wahrscheinlich weil das Virus zu viele Tiere getötet hatte, bevor es sich weiter verbreiten konnte. Die Kaninchen wurden zudem weniger anfällig. Ein Gegenbeispiel ist jedoch das RHD-Virus: Es wurde mit der Zeit tödlicher. Vermutlich weil es nicht nur über blutsaugende Insekten übertragen wird, sondern auch über Schmeißfliegen und so ein schnell eintreffender Tod des Wirts zu einer besseren Verbreitung des Virus führt.
Ein weiterer wichtiger Punkt zur Evolution von SARS-CoV-2 ist die Immunevasion und Infektiosität. Seit Beginn der Pandemie sorgen sich Wissenschaftler darum, ob das Virus womöglich soweit evolvieren könnte, dass es der durch eine Infektion oder Impfung ausgelösten Immunität entweicht. Es gibt bereits einige Varianten, die dahingehende Mutationen vorweisen und für beunruhigende Schlagzeilen gesorgt haben. Delta habe sich schon ein wenig in diese Richtung entwickelt, erklärt uns Prof. Friedemann Weber. „Bei der Delta-Variante gibt es ein kleines zeitliches Fenster, in dem auch infizierte Geimpfte infektiös sein können. Das Fenster ist kürzer und diese Personen sind auch weniger infektiös. Es kommt auch darauf an, wie lange die Impfung zurückliegt. Man ist dann anfälliger für die Infektion, aber nicht für die Krankheit“, sagt er.
Erste Daten würden bereits zeigen, dass eine Booster-Impfung auch gegen Delta hervorragend wirke. Außerdem sei ein an die neuen Varianten angepasster Impfstoff technisch überhaupt kein Problem – wahrscheinlich könne man hiermit bereits im nächstes Jahr im Herbst rechnen. Zur Variante Mu, der Immunevasion nachgesagt wird, erklärt Weber: „Mu ist zwar im Reagenzglas Rekordhalter im Immunescape, aber epidemiologisch setzt sie sich trotzdem nicht durch“. In diesem Zusammenhang sagt er auch, dass der „Faktor Zeit eine große Rolle“ dabei spielen würde, welche Variante sich durchsetzen könne. Die Variante Mu sei lediglich in Kolumbien vorherrschend, was auf einen zeitlichen Vorsprung zurückzuführen sein könnte.
Es ist nicht möglich, vorherzusagen, wie genau sich Virulenz, Infektiosität und Immunevasion des SARS-CoV-2 und die ganze Pandemie weiter entwickeln werden. Aber es gibt einige Faktoren, die diese Entwicklung beeinflussen. Darunter fallen auch die Maßnahmen und die Impfung. „Was wir machen können, ist eine hohe Anzahl an immunen Individuen in Umlauf bringen, sodass das Virus länger warten muss, bis es ein empfänglicheres Individuum trifft. Maßnahmen, Impfungen und unser Verhalten selektieren darauf, wie sich die Varianten entwickeln und welche Vorteile sie davon haben. Es ist nicht gesetzt, dass das Virus harmloser wird. Es ist ein Wechselspiel, welches von unserem Verhalten beeinflusst wird“, erklärt Weber.
Er ergänzt: „Wenn die Impfquote hoch genug ist und aufrechterhalten werden kann, wird das Virus harmloser für Menschen ohne Vorerkrankungen oder Immunsuppression. Und wenn sich das Virus langsamer vermehrt und schonender mit dem Wirt umgeht, wird es auch harmloser für die Risikogruppen.“
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