Ein Insulinanalogon, das einmal täglich subkutan injiziert wird und nur bei erhöhtem Blutzucker hormonell aktiv ist, ist sicher der Traum jedes Typ-1-Diabetikers. Zudem würde es regelmäßige Blutzuckerkontrollen überflüssig machen und das Hypoglykämie-Risiko drastisch senken.
Insulin ist ein Makromolekül, das aus zwei längeren Polypeptiden besteht. Diese werden als A- und B-Kette bezeichnet und bestehen aus 21 beziehungsweise 30 Aminosäuren. Verbunden sind sie durch zwei Disulfidbrücken. Eine dritte Disulfidbrücke befindet sich innerhalb der A-Kette. Die Sekundärstruktur des Insulins entsteht durch Wasserstoffbrückenbindungen, die zwischen den Carbonyl- und Amidgruppen der beiden Ketten ausgebildet werden. Während die A-Kette sich zu zwei alpha-Helices aufwickelt, die nur durch einen Aminosäurebaustein getrennt sind, zeigen nur 40 Prozent der B-Kette diese spiralförmige Struktur. Durch den Austausch oder die Modifikation einzelner Aminosäuren kann jedoch die Pharmakokinetik dieses Hormons beeinflusst werden, ohne die Bindung an den Insulinrezeptoren und damit auch die Wirkung zu verändern. Beispielsweise wurde in dem kurzwirksamen Analogon Insulin lispro die Reihenfolge der beiden Aminosäuren Lysin (B-Kette, Position 29) und Prolin (B-Kette, Position 29) vertauscht. Dies führt dazu, dass die Aggregate nach der Injektion schneller zerfallen und so Insulin schneller ins Blut gelangt. Bei dem langwirksamen Insulin detemir fehlt das Threonin (B-Kette, Position 30) und an das Lysin (B-Kette, Position 29) wurde ein Myristinsäure-Molekül, eine gesättigte Fettsäure mit 14 Kohlenstoffatomen, kondensiert. Diese Modifikation ermöglicht dem Makromolekül, reversibel an Albumin zu binden. Amerikanische Forscher haben nun ein in der B-Kette verändertes Kunstinsulin entwickelt, das nur bei erhöhten Blutzuckerspiegel hormonell aktiv ist. Ihre Ergebnisse wurden in dem Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlicht.
Synthetisiert wurden die Glukose-empfindlichen Moleküle, indem verschiedene Phenylboronsäure (BPA)-Derivate mit Myristinsäure fusioniert und anschließend mit „normalen“ Insulin umgesetzt wurden. Die aliphatische Seitenkette wurde eingeführt, um die Wirkdauer des Kunstinsulins im Vergleich zu dem Normalinsulin zu verlängern. Die BPA-Komponente dagegen sollte für eine Glukose-abhängige Wirkung sorgen. Denn Boronsäuren können mit Sacchariden reversible Komplexe bilden. Wie die Wissenschaftler in anschließenden Tests zeigen konnten, veränderte die Einführung der BPA-haltigen Seitenkette in die B-Kette des Insulins weder die Sekundärstruktur noch die Wirkung des Hormons. Die folgenden Tierversuche führte das Forscherteam an Diabetes erkrankten Mäusen durch. Dabei stellte sich heraus, dass das Insulin-Derivat, dessen Seitenkette eine BPA-Komponente mit einem Fluor-Atom aufwies, über einen Zeitraum von zehn Stunden einen erhöhten Blutzucker in den Normbereich absenken konnte. Für Mäuse sind das Werte, die niedriger als 200 mg/dL sind. Zusätzlich zeigte diese Verbindung eine Kinetik, die dem aus der Bauchspeicheldrüse freigesetzten Insulin ähnlich war. Im nächsten Schritt sollte das Risiko, nach Verabreichung des Fluor-haltigen BPA-Insulins eine Hypoglykämie zu erleiden, mithilfe des hypoglykämischen Index bewertet werden. Dieser wird berechnet, indem die Differenz aus dem anfänglichen und dem niedrigsten gemessenen Blutglukosewert gebildet und das Ergebnis durch die benötigte Zeit dividiert wird. Die Test wurden an gesunden Mäusen mit Blutzuckerwerten, die im Normbereich lagen, durchgeführt. Auch hier konnte das Fluor-haltige BPA-Insulin punkten. Denn verglichen mit Normalinsulin war sein hypoglykämischer Index deutlich geringer.
Aus ihren Ergebnissen, nämlich der im Vergleich zu Normalinsulin und Insulin detemir erhöhten Potenz und Reaktivität verbunden mit einem deutlich geringeren hypoglykämischen Index, schloss das Forscherteam, dass das Fluor-haltige BPA-Insulin nur bei erhöhten Glukosewerten im Blut aktiv ist. Die Wissenschaftler vermuten aufgrund ihrer Studien, dass Glukose an das Kunstinsulin bindet und so dessen blutzuckersenkende Wirkung aktiviert. Möglich wäre jedoch auch ein anderer Mechanismus. Unklar ist zudem, wie die lange Wirksamkeit zustande kommt. Die Wissenschaftler vermuten, dass das Kunstinsulin ähnlich wie das im Handel erhältliche Insulin detemir an hydrophobe Bereiche von Proteinen wie Albumin bindet. Grund für diese Annahme lieferten Experimente zur Bindungskinetik, die jedoch einen alternativen Mechanismus nicht ausschließen. Denkbar wäre auch eine reversible Bindung an Diole, die unter anderen in Glykoproteinen vorkommen.
Die Idee, Insulintherapeutika mit Glukose-abhängiger Wirkung zu entwickeln, ist nicht neu. Bereits in den 80ern und 90ern des vorigen Jahrhunderts entwickelten Wissenschaftler glykosylierte Insuline. Diese sollten von Lektinen wie Concanavalin A, ein Protein aus der Jackbohne, gebunden und nur bei erhöhten Glukosewerten freigesetzt werden. Ein weiteres Forschungsfeld sind sogenannte Smart-Insuline, von denen nun eines sich in Phase II der klinischen Forschung befindet. Das Prinzip ist folgendes: Insulin wird an ein Protein oder ein Polymer gekoppelt, so dass es nach der Injektion nicht mehr absorbiert wird. Steigt der Glukosespiegel im Blut, erhöht sich wenig später auch die Konzentration im Gewebe. Die Glukose kann nun das Insulin von dem Eiweiß verdrängen, wodurch dieses absorbiert werden kann. Problematisch bei diesen Systemen ist, dass Proteine oder Polymere unerwünschte Nebenwirkungen wie Immunreaktionen hervorrufen können. Die Lösung wäre, ohne diese Hilfsmittel auszukommen. Bereits 2005 synthetisierten Wissenschaftler um Hoeg-Jensen BPA-haltige Insuline, die sie anschließend auf ihre Glukose-Affinität analysierten. Die Ergebnisse wurden in dem Fachmagazin „Journal of Peptide Science“ veröffentlicht. Die vorliegende Arbeit untersuchte nun die Glukose-abhängige Wirkung der Kunstinsuline in Tierversuchen. „Das Flour-haltige BPA-Insulin erfüllt die wirkliche Definition eines Smart-Insulins, bei dem das Insulin selbst Glukose-empfindlich ist. Es ist das Erste seiner Klasse“, so Chou, einer der Autoren. In zwei bis fünf Jahren, so die Wissenschaftler optimistisch, soll ihre Substanz in Phase I der klinischen Forschung gehen. Ob sich die Hoffnung erfüllt, muss abgewartet werden. Bevor die Substanz an Menschen getestet wird, müssen nämlich weitere Wirksamkeits- und auch Toxizitätsstudien durchgeführt werden. Denn auch winzige Veränderungen innerhalb der Struktur eines „harmlosen“ Moleküls können zu Verbindungen führen, die schwerwiegenden Nebenwirkungen verursachen. Originalpublikation: Glucose-responsive insulin activity by covalent modification with aliphatic phenylboronic acid conjugates Danny Hung-Chieh Chou et al.; PNAS, doi: 10.1073/pnas.1424684112; 2015