Gibt es bald eine erste, erstattungsfähige App für Patienten mit erektiler Dysfunktion? Die Chancen stehen gut.
Seit rund einem Jahr existiert jetzt der neue Leistungsbereich der digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DiGA. Das sind Software-Lösungen, meist mobile Apps, die Ärzte bei bestimmten Indikationen verschreiben können wie ein Medikament. Sie durchlaufen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einen Zulassungsprozess und sie werden, wenn genug Evidenz vorliegt oder eine entsprechende klinische Studie läuft oder in Planung ist, im BfArM DiGA Verzeichnis temporär oder dauerhaft gelistet. Jede App, die es in dieses Verzeichnis schafft, kann regulär rezeptiert werden und wird von der GKV erstattet.
Rund ein Jahr nach dem Startschuss sind aktuell 20 DiGA im DiGA-Verzeichnis zu finden. Julia Hagen vom „health innovation hub“ des Bundesgesundheitsministeriums schätzt, dass es zu diesen DiGA insgesamt bisher rund 20.000 ärztliche Verordnungen gab. Über 40 DiGA-Anträge wurden entweder vom BfArM abgelehnt oder vom Hersteller zurückgezogen.
Das Spektrum der durch die erstattungsfähigen DiGA abgedeckten Indikationen ist noch recht schmal. Ein großer Schwerpunkt sind psychotherapeutische Anwendungen auf Basis der kognitiven Verhaltenstherapie. Außerdem finden sich im DiGA-Verzeichnis Anwendungen im Bereich Bewegungstherapie mit Indikationen wie Adipositas oder Gelenkerkrankungen, Nachsorgeanwendungen und therapeutische Tinnitus-Apps.
Insgesamt sind die DiGA im riesigen GKV-Erstattungsuniversum derzeit also noch ein recht zartes Pflänzchen. Doch das könnte sich ändern. Einer, der daran arbeitet, ist Prof. Dr. Kurt Miller, der ein Vierteljahrhundert die Urologie der Charité geleitet hat, bevor er zum Mitgründer des in Berlin ansässigen Start-ups Kranus Health wurde. Ziel von Kranus ist es, eine digitale Plattform für Männergesundheit zu etablieren. Den Anfang machen soll Edera, ein Tool für Patienten mit erektiler Dysfunktion (ED), über das Miller heute beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) berichtete. Das Ziel: „Es gibt in Deutschland etwa 2800 niedergelassene Urologen. Wir stellen uns vor, dass wir im nächsten Jahr 10 Prozent davon als regelmäßige Verschreiber haben“, so Miller im Gespräch mit DocCheck.
Edera ist eine auf 12 Wochen konzipierte, therapeutische Coaching-Anwendung, die eine nicht-medikamentöse Behandlungsoption für ED-Patienten bietet. Die Schwerpunkte liegen auf Herz-Kreislauf-Training, Beckenbodentraining und mentaler Unterstützung in Form von Achtsamkeitstraining. Das Programm enthält aber auch sexualtherapeutische Komponenten. Patienten erhalten detaillierte Trainingspläne, die sich an der individuellen körperlichen Fitness orientieren, außerdem diverse audiovisuelle Inhalte zur Verbesserung des Krankheitsverständnisses und zum Einfluss von Lebensstilfaktoren wie Ernährung oder Stress auf die ED.
Aber ist das überhaupt nötig? Immerhin steht mit den PDE-5-Hemmern seit mittlerweile 25 Jahren eine sehr effektive Pharmakotherapie zur Verfügung. Miller sieht dennoch einen klaren Bedarf: „Es gibt Patienten, die vertragen PDE-5-Hemmer nicht. Es gibt Patienten, die wollen sie nicht. Und es gibt Patienten, die wollen sie jedenfalls nicht 30 Jahre lang einnehmen.“ In diesen Konstellationen können die App-basierte Therapie eine Alternative zum PDE-5-Hemmer sein. Genauso sei aber auch denkbar, dass die App parallel zur Pharmakotherapie verordnet werde, um den Therapieeffekt zu festigen oder zu steigern. Miller betont, dass das auch pathophysiologisch Sinn machen könne: „Mit den PDE-5-Hemmer adressieren wir die arterielle Seite. Den Blutausstrom können wir pharmakologisch kaum beeinflussen, aber mit Beckenbodentraining und damit mit der App geht das.“
Um in die GKV-Erstattung zu kommen, muss die Edera App vom BfArM im DiGA-Verzeichnis gelistet werden. Dieser Prozess läuft gerade. Miller ist sehr optimistisch, dass die angestrebte Listung irgendwann im Laufe des Novembers dann auch verkündet werden kann. Angestrebt wird eine vorläufige Listung im Rahmen des so genannten Fast-Track-Verfahrens. Dafür müssen erste Daten aus einer Art Phase-II-Studie vorgelegt werden. Danach wird dann eine größere Studie unter realen Versorgungsbedingungen durchgeführt, und deren Ergebnisse entscheiden über die dauerhafte Erstattung durch die GKV.
Die Ergebnisse der Pilotstudie, die auch dem BfArM vorliegen, hat Miller heute bei der DGU-Tagung erstmals im Detail vorgestellt. Bisher wurden 44 Patienten mit der App versorgt, teils Patienten, die keine PDE5-Hemmer einnahmen, teils solche mit PDE-5-Hemmer-Therapie, wobei in diesem Fall keine Dosisänderungen erlaubt waren. Angesehen haben sich die Urologen den IIEF-Score, der auch in PDE-5-Hemmer-Studien standardmäßig als Effektivitätsendpunkt genutzt wird. Ein Anstieg um 3 Punkte gilt hier als klinisch relevant. „Wir haben eine Verbesserung von 4,5 Punkten gesehen und liegen damit in ähnlicher Größenordnung wie PDE-5-Hemmer“, so Miller. Es zeigte sich auch ein relevanter Anstieg der Lebensqualität.
Randomisiert war die Phase-II-Studie nicht, es handelt sich um einen intraindividuellen Vergleich. Die randomisierte Studie kommt jetzt, nach der erhofften BfArM-Listung folgen. Sie wird geleitet von der Vorsitzenden des Arbeitskreises Andrologie bei der DGU, Prof. Dr. Sabine Kliesch vom Klinikum Münster. An dieser Studie sollen 190 Patienten teilnehmen, die zu einer Behandlung mit der Edera App oder zu nur Informationsmaterial randomisiert werden. Nach Ende der dreimonatigen Intervention wechselt die ursprüngliche Kontrollgruppe dann auch in die Interventionsgruppe.
Die wichtigste Herausforderung wird sein, genug Urologen zu überzeugen, die App auch tatsächlich einzusetzen. Miller macht sich da keine Illusionen, denn digitale Innovationen haben es nicht leicht in der ambulanten Versorgung. Hilfreich könnte sein, dass den Urologen bei der ED oft die Zeit für eine umfangreiche Patientenberatung fehlt: „Urologen wollen bei der ED nicht eine halbe Stunde reden“, so Miller.
Die App mit ihrem umfangreichen Informationsangebot kann hier helfen und den Urologen quasi einen Teil des Sprechens abnehmen. So ähnlich funktionieren auch andere digitale Patientenbegleitprogramme, etwa beim Diabetes. Dass das funktionieren könne, hätten die bisherigen Erfahrungen gezeigt, so Miller: „Ich habe mit fast allen Patienten, die wir bisher behandelt haben, selbst gesprochen. Das Programm wird überwiegend sehr positiv bewertet. Wenn die ersten Patienten zu den Urologen zurückkommen und sagen, dass sie das Programm gut fanden, dann wird es laufen.“
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