Tinnitus ist nicht nur ein Problem unter Erwachsenen, auch Kinder und Jugendliche sind häufig betroffen. Ursachen sind oft eine hohe Lärmbelastung, etwa durch MP3-Player oder Konzerte – und Stress. Eltern wissen häufig nichts von dem Problem und Ärzte unterschätzen es.
Das Deutsche Zentrum für Musiktherapieforschung (DZM) in Heidelberg hat jüngst darauf hingewiesen, dass bei Jugendlichen ab 14 Jahren Tinnitus ähnlich häufig vorkommt wie bei Erwachsenen. Die dort behandelten Patienten gaben vor allem zwei Gründe für ihren Tinnitus an: Erstens eine hohe Lärmbelastung, beispielsweise durch die Benutzung von MP3-Playern oder den Besuch von lautstarken Freizeitveranstaltungen wie Konzerten oder Diskotheken. Als weiterer Grund wurde Stress genannt, insbesondere schulischer Stress, und die damit verbundenen psychischen Belastungen wie Ängste, Depressionen und Schlafstörungen. Das DZM kritisiert, dass Tinnitus bei Jugendlichen in Deutschland bislang deutlich unterschätzt wird. Als Folge sei das Behandlungsnetzwerk nicht ausreichend ausgebaut. Vor allem gebe es keine ambulanten Therapien, die wissenschaftlich überprüft seien. Aufgrund der hohen Nachfrage habe das DZM deshalb jüngst sein Behandlungsspektrum erweitert. Wichtig sei, im Rahmen der Therapie auch die psychischen Belastungen der Jugendlichen zu adressieren.
Dass das DZM auf die Bedeutung des Tinnitus und damit auch auf die Wichtigkeit seiner eigenen Existenz hinweist, verwundert natürlich nicht. Doch die Aussagen des DZM werden durch andere Quellen gestützt. Während die Prävalenz von Tinnitus bei Erwachsenen hierzulande meist mit bis zu 15 % angegeben wird, gibt es zwar zu Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen keine genauen Angaben aus Deutschland, doch in Belgien beispielsweise leiden einer 2014 veröffentlichten Studie zufolge 6,6 % der befragten jungen Erwachsenen (Alter 18-27 Jahre) unter einem chronischen Tinnitus aurium. Nach Freizeit-bedingter Lärmexposition berichteten sogar 73,5 % von einem transienten Tinnitus, der aber innerhalb von 72 Stunden wieder verschwand. Ähnliche Zahlen finden sich auch für Schweden, wo die Prävalenz für permanenten Tinnitus bei den 13- bis 19-Jährigen 8,7 % beträgt. Und in den USA litten einer 2013 veröffentlichten Studie zufolge 18,3 % der 14- bis 18-Jährigen unter einem permanenten Tinnitus und 74,9 % unter einem temporären, Lärm-induzierten Tinnitus. In derselben Studie wurde zudem die Einstellung der Jugendlichen zu den Themen Lärm und Gehörschutz untersucht. Die meisten Jugendlichen hatten eine neutrale Einstellung zu Lärm, und nur ein sehr geringer Prozentsatz (4,7 %) verwendete einen Gehörschutz.
Doch nicht nur bei den Jugendlichen ist die Prävalenz von Tinnitus hoch. Auch Kinder könnten deutlich häufiger unter Tinnitus leiden als bislang angenommen. Einer Studie aus Schweden zufolge berichteten 41 % der 7-Jährigen, mehr als einmal Lärm-induzierten Tinnitus oder spontanen Tinnitus erlebt zu haben. Ähnlich sieht es in Polen aus, wo 33 % der befragten 7-jährigen Kinder angaben, Tinnitus zu haben. Das Gravierende daran: 75 % der Kinder beklagten sich nicht spontan bei den Eltern über die Ohrgeräusche. Dass dies kein länderspezifisches Problem ist, zeigen Studiendaten aus Brasilien: Auch dort litten 21,7 % der befragten 6- bis 10-Jährigen unter kontinuierlichem Tinnitus, weitere 3,8 % berichteten über einen pulsatilen Tinnitus. Und auch hier waren der Hälfte der Eltern die Probleme ihrer Kinder nicht bekannt. Die Gründe für die hohe Prävalenz von Tinnitus bei Grundschülern wurden bisher zwar nur unzureichend untersucht, Lärm durch Diskobesuche und Konzerte kommt aber in diesem Fall wohl eher nicht in Frage. Professor August Schick von der Universität Oldenburg ist der Meinung, dass Lärm in Schulen und Kindergärten das größte Problem ist: „Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder in der Schule dem größten Lärm ausgesetzt sind. Und genau dort müssen die Verantwortlichen sie auch schützen, indem sie für eine sinnvolle und physikalisch richtige Raumakustik sorgen. In einigen Kindergärten müsste der Nachwuchs erwiesenermaßen einen Gehörschutz tragen, weil dort eine Lärmbelastung von über 85 Dezibel gemessen wurde.“ Das Problem der unzureichenden Dämmung wird durch die heutigen neuen Unterrichtsformen noch verschärft. „Die Schüler arbeiten heute selbstständiger, aber dafür sind die Räume nicht gebaut. So entsteht der gleiche Effekt wie in der Kneipe: Wenn am Nachbartisch laut geredet wird, muss die Lehrkraft auch lauter sprechen. So schaukelt sich das gegenseitig hoch“, erklärt der Bremer Arbeitswissenschaftler Gerhart Tiesler.
Viele Tinnitus-Therapieoptionen sind bisher nicht ausreichend in validen klinischen Studien untersucht worden. Eine Übersicht über die aktuellen Behandlungsempfehlungen findet sich in der Ende Februar aktualisierten Leitlinie „Chronischer Tinnitus“. Besondere Bedeutung kommt dabei der auf die Diagnostik gestützten Beratung und Aufklärung des Patienten zu, dem sogenannten Tinnitus-Counseling, welches die Grundlage jeder Therapie sein sollte. Zudem empfiehlt sich eine tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie (tKVT) auf der Grundlage eines validierten, strukturierten Therapiemanuals. Die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) wird dagegen nicht empfohlen, da die Schalltherapie keinen Zusatznutzen aufzuweisen scheint. Aus diesem Grund ist der therapeutische Nutzen der TRT wohl allein auf ihren KVT-Anteil zurückzuführen – auf den man sich dementsprechend beschränken kann. Zudem treten im Zusammenhang mit Tinnitus gehäuft psychiatrische und/oder psychosomatische Komorbiditäten auf, insbesondere Angststörungen, Depressionen und Schlafstörungen. Diese sollten unbedingt mitbehandelt werden, gegebenenfalls auch mit Arzneimitteln. Obwohl Tinnitus nur bei einem geringen Prozentsatz der Betroffenen zu einem hohen Leidensdruck führt, ist es mehr als nur eine Lappalie. Die Hinweise mehren sich nämlich darauf, dass Tinnitus ein frühes Warnsignal für Lärm-induzierten Hörverlust ist. Aus diesem Grund kommt dem Schutz vor Lärmschädigungen eine besondere Rolle zu. Dass Aufklärungskampagnen in diesem Bereich durchaus Erfolg haben können, zeigt das Beispiel Belgien: Dort führte eine staatliche Aufklärungskampagne dazu, dass der Anteil der Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren, die einen Gehörschutz verwendeten, von 3,6 % auf 14,3 % anstieg. Obwohl die langfristigen Effekte der Kampagne noch näher untersucht werden müssen, ist sie ein positives Signal dafür, dass Aufklärung auch Erfolg hat.