Die Grippe-Impfung kann die Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt senken. Das zeigt die IAMI-Studie. Müssen Ärzte, die nach Infarkt nicht impfen, sich künftig rechtfertigen?
Impfungen gelten als Domäne der ambulanten Medizin, aber nicht alle Impfungen werden dort gleich konsequent unters Volk gebracht. Könnte es in manchen Situationen sinnvoll sein, der Einfachheit halber vor Entlassung im Krankenhaus zu impfen? Das ist eine von mehreren Fragen, die sich nach der randomisierten, kontrollierten, doppelt verblindeten IAMI-Studie stellen, die Prof. Ole Fröbert von der Universitätsklinik im schwedischen Örebro beim europäischen Kardiologenkongress vorgestellt hat.
Die Studie hat untersucht, ob und, wenn ja, wie stark Patienten mit einem akuten Herzinfarkt von einer Grippe-Impfung profitieren. Das ist prinzipiell kein revolutionärer Ansatz. Sowohl kardiologische Leitlinien als auch die STIKO empfehlen eine saisonale Grippe-Impfung für herzkranke (und, im Falle der STIKO, alle anderen chronisch kranken) Patienten. Allein, es hapert an der konsequenten Umsetzung: Je jünger die Patienten, desto schlechter die Quote.
Die Intervention der IAMI-Studie war ausgesprochen simpel: Insgesamt 2.571 Patienten aus acht Ländern wurden bei einem Herzinfarkt randomisiert und erhielten innerhalb von 72 Stunden nach dem Ereignis entweder die saisonale Grippe-Impfung oder eine Placebo-Injektion. Die Studie war eigentlich für 4.400 Patienten geplant gewesen, wurde aber wegen der COVID-19-Pandemie vorzeitig abgebrochen. Das ist einer der Wermutstropfen dieser Studie, die damit aber bei Weitem nicht allein ist. Dennoch: Zweieinhalbtausend Patienten ist nicht nichts, sie verteilten sich grob hälftig auf ST-Hebungs-Infarkte (STEMI) und Nicht-ST-Hebungs-Infarkte (NSTEMI).
Primärer Endpunkt der Studie war ein kombinierter: Es ging um Todesfälle jeglicher Art, erneute Herzinfarkte und Stentthrombosen. Das Ergebnis lässt sich knapp zusammenfassen: Die Impfung verringerte das Risiko dieser Endpunkte innerhalb von 12 Monaten um 28 Prozent. Das war mit einer HR von 0,72 (95 % CI 0,52–0,99) statistisch signifikant. In absoluten Zahlen traten bei 5,3 Prozent der Patienten mit Grippe-Impfung, aber bei 7,2 Prozent der Patienten mit Placebo-Impfung Endpunktereignisse auf. Der Effekt geht in erster Linie auf die NSTEMI-Subpopulation zurück. Bei den STEMI-Patienten zeigt er sich in der Studie nicht.
Das Bemerkenswerte an der IAMI-Studie ist, dass der Unterschied praktisch komplett durch die Sterblichkeit getrieben wird und dass es hier die kardiovaskuläre Sterblichkeit ist, die maßgeblich ist. Beides, Sterblichkeit und kardiovaskuläre Sterblichkeit, waren prädefinierte sekundäre Endpunkte, in beiden Fällen war der Unterschied statistisch signifikant. Es verstarben in der Impfgruppe insgesamt 2,9 Prozent der Patienten und in der Placebo-Gruppe 4,9 Prozent der Patienten. 2,7 Prozent bzw. 4,5 Prozent davon waren kardiovaskuläre Todesereignisse. Myokardinfarkte und Stentthrombosen unterschieden sich nicht signifikant.
Mit anderen Worten: Wer 50 Patienten nach einem Herzinfarkt eine Grippe-Impfung verpasst, der rettet damit im Schnitt ein Leben. In der NSTEMI-Subpopulation schnurrt die Number-needed-to-treat für „ein Leben innerhalb eines Jahres retten“ sogar auf 25 zusammen, mit absoluten Ereignisraten von 6,5 Prozent vs. 10,5 Prozent, bezogen auf den Kombinationsendpunkt. Der Blick in die Subgruppen zeigt dabei, dass es mit 2017/2018 und 2019/2020 vor allem zwei der insgesamt vier Grippe-Saisons waren, die den Unterschied ausmachten. In den beiden Grippe-Saisons 2016/2017 und 2018/2019 war die Impfung in Bezug auf die Sterblichkeit dagegen neutral.
Die Wissenschaftler um Fröbert weisen darauf hin, dass in den beiden Grippe-Saisons 2017/2018 und 2019/2020 jeweils ein Impfstoff mit für Grippeimpfungen eher hoher Effektivität von bis zu 60 Prozent verimpft wurde, während die Effektivität der Grippe-Impfung in den beiden anderen Saisons schlechter war. Auch das spricht für eine Kausalität zwischen Impfung und Vermeidung von Todesfällen.
Da das Ergebnis nicht oder jedenfalls nicht wesentlich auf Influenza-Todesfälle zuzuführen zu sein scheint, stellt sich die Frage, woran es sonst liegen könnte. Auch hier geben die Wissenschaftler in ihrer Publikation in der Zeitschrift Circulation Diskussionsanregungen. Vielleicht macht tatsächlich die kurzfristig nach Infarkt durchgeführte Impfung den Unterschied, indem sie in einer besonders vulnerablen Phase zu einer Aktivierung des Immunsystems mit sukzessiver antiinflammatorischer und stabilisierender Wirkung auf Ebene der atherosklerotischen Plaques führt.
Die Alternativerklärung, die besser zu den oben genannten saisonalen Unterschieden passt, wäre, dass die Grippeerkrankung selbst kardiovaskuläre Ereignisse triggert – und eine effektive Impfung diese entsprechend reduziert. Dagegen wiederum spricht, dass sich die Häufigkeit von Myokardinfarkten in beiden Studienarmen nicht signifikant unterschied. Aus Sicht von Fröbert gibt die IAMI-Studie – in Verbindung mit anderer, bereits existierender Evidenz – Kardiologen aber völlig unabhängig vom genauen Pathomechanismus quasi den Auftrag, ihre Infarktpatienten zügig gegen Grippe zu impfen. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie hat sich dem zumindest auf dem digitalen Papier angeschlossen: „Grippe-Impfungen nach Herzinfarkt sollten Standard werden“, schreibt die Fachgesellschaft.
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