„Amok-Pilot“, „Psychopath“, „Massenmörder“ und auch „Opfer“, so wird der Germanwings-Co-Pilot Andreas Lubitz (✝ 27) tituliert. Nach dem ersten Schock über das Unglück am 24. März folgt nun eine flammende Diskussion über die Abschaffung der ärztlichen Schweigepflicht. Zu Recht?
„Piloten müssen zu Ärzten gehen, die vom Arbeitgeber vorgegeben werden. Diese Ärzte müssen gegenüber dem Arbeitgeber und dem Luftfahrtbundesamt von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden sein.“ So äußerte sich der CDU-Verkehrspolitiker Dirk Fischer gegenüber der Rheinischen Post (RP). Dazu müsse die Schweigepflichtsentbindung Teil des Arbeitsvertrags der Piloten sein. Zudem fordert Fischer engmaschigere medizinische Kontrollen von Piloten mit „besonderen Diagnosen“. Auch andere Politiker stimmen in den Kanon der Schweigepflicht-Kritik ein: Der CDU-Abgeordnete Thomas Jarzombek fordert etwa eine Expertenkommission, die den Umgang mit ärztlichen Diagnosen „bei Menschen in besonders verantwortungsvollen Berufen“ prüft. Darunter würden auch andere Berufe, wie Zugführer oder Fernbusfahrer, fallen. Anders sieht dies Parteikollege Jens Spahn, Gesundheitsexperte bei der CDU. „Die ärztliche Schweigepflicht ist ein sehr hohes Gut. Der Patient muss sich immer auf das besondere Vertrauensverhältnis zum Arzt verlassen können, nur dann wird er ehrlich und offen sein“, warnt er. Ähnliches gibt auch Dr. Hans Drexler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM), zu bedenken. Wenn sich ein Mensch mit Gesundheitsproblemen nicht mehr auf die Verschwiegenheit des Arbeitsmediziners verlassen könne, werde dieser, so Drexler, kaum noch Informationen an den Arzt weitergeben, die eine Gefährdung für seine berufliche Zukunft darstellen könnten. Letztendlich sei dies schädlich für das Allgemeinwohl und die „Sicherheit für die Unversehrtheit von Dritten.“
Die Diskussion rund um die Schweigepflichtregelung geht bereits weit über die Berufsgruppe der Piloten hinaus. Prof. Dr. Rainer Riedel, Leiter des Instituts für Medizinökonomie und Medizinische Versorgungsforschung der Rheinischen Fachhochschule Köln (RFH), gibt zu bedenken: „Haus- und Fachärzte behandeln täglich Patienten aus Berufsgruppen wie Busfahrer, Straßenbahn-, Lokomotivführer, Taxifahrer oder Gefahrguttransporter in ihren Praxen, die aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht arbeitsfähig sind.“ Für wiederholte Erkrankungen solcher Patienten mit fehlender Einsicht über ihre Verkehrstauglichkeit fordert Riedel eine Neuregelung zum Schutz Dritter. Hierzu schlägt er eine Berechtigung für den behandelnden Arzt vor, die „Verkehrsuntauglichkeit“ dem zuständigen Betriebsarzt mitzuteilen. Der Arbeitsmediziner ist allerdings dem Arbeitgeber gegenüber ebenfalls zum Schweigen verpflichtet – so wie jeder andere Arzt auch. Kann es demnach sinnvoll sein, wenn der Arzt zumindest eine Krankmeldung direkt an den Arbeitgeber übersenden kann? Dies ist der Vorschlag von Klaus Reinhardt, dem Vorsitzenden des Hartmannbunds. Er hält eine elektronische Lösung für denkbar, bei der die Diagnose jedoch ausgespart wird. Auch Reinhardt spricht von „Berufen, die ein hohes theoretisches Gefährdungspotential beinhalten“. Dieser Ansatz wirft wiederum neue Fragen auf: Sollte die Option einer „Zwangs-Krankschreibung“ sich nur auf Berufe beziehen, in denen mit Kraftfahrzeugen oder Gefahrengütern hantiert wird? Würden solche Sonderregelungen sich in der Praxis nicht zwangsläufig primär auf psychische Erkrankungen beziehen? Demnach könnte einer Direktübermittlung der Krankmeldung auch ohne ausgewiesene Diagnose eine stigmatisierende Konnotation anhaften. Mit dieser Regelung hätte Andreas Lubitz am 14. März in jedem Fall nicht im Cockpit des Airbus gesessen. Womöglich stellt eine generalisierte Umstrukturierung des Krankschreibe-Systems eine Option dar – Arbeitgeber und Krankenkassen könnten automatisch über jede Krankschreibung informiert werden. Allerdings wirft auch eine solche Lösung zweifellos datenschutzrechtliche Probleme auf.
Die Schweigepflicht selbst anzutasten oder durch zu viele Sonderregelungen auszuhöhlen, würde einer typischen medienpolitischen Überreaktion gleichkommen. Sie ist in § 203 des Strafgesetzbuches verankert und durch die Berufsordnung für Ärzte standesrechtlich geregelt. Die Schweigepflicht stellt das Fundament für die Offenheit und das Vertrauen aller Patienten gegenüber ihren behandelnden Ärzten dar. Zudem existieren bereits Sonderregelungen: Ärzte dürfen dann Auskunft geben, wenn die Offenbarung von Patienteninformationen „zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes“ notwendig ist. Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Frank Ulrich Montgomery, erklärte dazu jüngst, „das Interesse an der Abwehr konkreter Gefahren für Leib, Leben oder Gesundheit“ sei höherwertig gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse des Patienten. Dies setze aber voraus, dass es konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahrensituation gebe. Außerdem müsse der Arzt vor dem Bruch der Schweigepflicht zunächst ohne Erfolg versucht haben, den Patienten von der Herbeiführung der Gefahrensituation abzuhalten. Im Fall von Andreas Lubitz jedoch haben die behandelnden Ärzte, nach Angaben der Staatsanwaltschaft, weder Suizidalität noch Fremdaggressivität attestiert. Von einer Gefahr für Leib und Leben anderer konnten sie nicht ausgehen. Hinter dem Absturz des Germanwings-Flugs 4U9525 steckt demnach ein tragischer Einzelfall, der sich auch mit einer offeneren Schweigepflichtregelung vermutlich nicht hätte verhindern lassen.