Dank innovativer Therapien überwinden immer mehr Patienten unterschiedliche Krebserkrankungen. Ihre Rückkehr in das alte Leben wird oft zur Herausforderung. Hier setzen die „Segelrebellen“ an: mit Törns, die Betroffenen helfen, wieder an sich zu glauben.
Gute und schlechte Nachrichten gehen Hand in Hand: Schätzungen zufolge werden pro Jahr bei etwa 120.000 Erwachsenen zwischen 15 und 60 Jahren maligne Erkrankungen neu diagnostiziert. Mehr als 86 Prozent überstehen das Leiden zwar, fallen aber in ein tiefes, schwarzes Loch – wie Marc Naumann. Er litt an einem Germinom und wurde per Radiochemotherapie behandelt. Trotz Fatigue und Zweifeln war aufgeben für ihn keine Option. Er kämpfte gegen die Krankheit an, machte Sport und versuchte, seelischen Ballast abzuwerfen. „Die Perspektive für danach war aber, mein Studium beenden und als Anwalt erfolgreich zu starten.“ Nach dem Tod eines engen Freundes begann er, sich stärker auf persönliche Ziele zu konzentrieren – und gründete die „Segelrebellen“. Marc Naumann
Naumann: „Die Idee ist, dass man sich beim Segeln eine Auszeit vom Alltag gönnt, aber keine Erholung oder Ruhe.“ Patienten sollen sich in erster Linie ihrer Krankheit stellen, aber auch Mut fassen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Was beim Gründer von „Segelrebellen“ funktioniert hat, tut vielen Menschen gut. Einschränkungen gibt es kaum. „Jemand, der nicht auf ständige ärztliche oder psychologische Hilfe angewiesen ist, kann bei uns mitmachen.“ Erledigen Patienten ihre täglichen Besorgungen wieder selbst, sind sie auch fit genug für den Törn. „Wir teilen die Arbeiten an Bord so ein, dass auch Menschen, die nicht extrem fit sind, Teil des Teams sind“, so Naumann weiter. „Es muss ja nicht immer alles mit höchster Geschwindigkeit laufen.“ Im Mittelpunkt stehen die Einstellung und die Bereitschaft, an eigene Grenzen zu gehen. Professionelle Segelkenntnisse setzt der Skipper nicht voraus. Und so mussten sich alle Teilnehmer bei ihrer Jungfernfahrt nach Mallorca durch starken Wind und hohe Wellen kämpfen – ganz im Sinne des Konzepts. Sie überstanden die Unbilden des Wetters, ähnlich wie bei ihrer früheren Krebsdiagnose. Daraus gehen sie gestärkt hervor: seelisch, aber auch körperlich. Medizinische Bedenken sind fehl am Platze.
An Bord befindet sich neben der Grundausstattung lediglich eine Offshore-Bordapotheke plus Erste-Hilfe-Koffer. Marc Naumann hat umfassende Erste-Hilfe-Kurse absolviert, ist aber kein Mediziner. Ärzte oder Psychologen wollte der Skipper aber nicht mitnehmen – „dann verlässt man sich wieder auf andere“. Er bittet Interessierte nur um ein Attest: nicht als Teilnahmevoraussetzung, vielmehr als Absicherung, dass sich Teilnehmer mit der Frage befasst haben, welche Präparate sie benötigen. „Ein Patient sollte aus medizinischer Sicht anfangs nicht mitkommen. Nach gründlicher Überlegung bekam er eine erweiterte Ausstattung mit Präparaten für die Reise zusammengestellt“, erzählt der Gründer von „Segelrebellen“. Daran hatte der Arzt gar nicht gedacht, rückte aber von seiner Skepsis ab. Ärzte arbeiten häufig mit Stand-By-Therapien. Sie geben Reisenden beispielsweise Antibiotika mit – inklusive klarer Handlungsanweisung, wann entsprechende Präparate einzunehmen sind. Marc Naumann kann seine Touren auch in gewissem Maße anpassen. Benötigen Teilnehmer möglicherweise innerhalb von drei, vier Stunden medizinische Hilfe, geht es eher entlang der Küste. Auf hoher See bleibt noch, per Funk oder Satellitentelefon Mediziner zu erreichen. Und die funkärztliche Beratung am Krankenhaus Cuxhaven steht 24 Stunden am Tag mit Rat und Tat zur Seite. Bislang gab es außer leichten Kreislaufproblemen aber keinerlei Komplikationen. Ganz im Gegenteil: Die Teilnehmer gingen gestärkt von Bord.
Das hat Marc Naumann auch als Feedback bekommen. Vorher waren viele trotz guter medizinischer Prognose eher zögerlich. Jetzt übernehmen sie wieder Verantwortung und packen ihr Leben an. Einige Beispiele: Andrea, sie erkrankte an Morbus Hodgkin, lenkte durch den Segeltörn ihr Leben wieder in die richtigen Bahnen. Jetzt fokussiert sie sich auf ihre Belange, ihr Studium, ihre Partnerschaft, ohne sich in tausend Aktivitäten zu verzetteln. Und Hauke, er litt am myelodysplastischen Syndrom (MDS), ergänzt: „Der Törn hat mich mental gestärkt und aus dem eintönigen Alltag entführt.“ Für viele war die Entscheidung, überhaupt teilzunehmen, der größte Schritt – nicht das Segeln an sich. Von diesen Erfolgen angespornt, schmiedet Marc Naumann bereits neue Pläne. Er will stärker auf die Probleme junger Erwachsener mit Krebs aufmerksam machen und sucht nach innovativen Finanzierungsmöglichkeiten. Momentan leisten Teilnehmer nur einen kleinen Obolus. Per Crowdfunding leisten Interessierte einen Beitrag, um die „Segelrebellen“ zu unterstützen. Ein Online-Shop ist ebenfalls geplant. Sponsoren wären wünschenswert – beispielsweise aus der pharmazeutischen Industrie, damit er weitere Reisen noch unabhängiger von Schiffseignern planen kann. Neue Routen stehen auch schon fest: Anfang Juni geht es zehn Tage lang in Richtung türkische Ägäis. Und im Oktober stehen Nordsee oder Ostsee auf dem Plan.