Potenzielle Alzheimer-Medikamente werden häufig zu schnell gefeiert. Von den Herstellern, manchmal auch von den Medien und Forschern. Dabei ist der Blick in die Studien meist enttäuschend.
Im Juli 2021 gab Cassava Sciences bekannt, das Medikament Simufilam verbessere die kognitiven Fähigkeiten von Patienten mit der Alzheimer-Erkrankung1. Grund zur Freude gibt es aber nicht: Der Nachweis einer Wirkung lässt sich aus den aktuellen Studiendaten nicht ablesen2. Aber, warum ist Simufilam nicht der Durchbruch, den die Pressemitteilung vermuten lässt?
Zunächst müssen wir beachten, dass es derzeit einige vielversprechende Medikamente gibt, die für die Therapie der Alzheimer-Erkrankung getestet werden3. Im Januar 2021 waren allein bei ClinicalTrials.gov 152 klinische Studien für 126 Wirkstoffe registriert, davon 28 bereits in Phase 3 und 74 in Phase 2. Die Ziele der Behandlungen unterscheiden sich je nach Studie – etwa 10 Prozent der Wirkstoffe sollen die kognitiven Fähigkeiten verbessern, so wie Cassava Sciences es auch für Simufilam postuliert.
Doch selbst, wenn es potenzielle Medikamente in eine Phase-3-Studie schaffen, ist das keine Garantie für Erfolg. „Es gibt kaum so viele vielversprechende Zwischenstudien, die dann in Phase 3 gescheitert sind, wie bei der Alzheimer-Erkrankung“, sagt Dr. Stefan Teipel, Professor und Leiter der Klinischen Demenzforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) Rostock.
Das liegt zum Teil an den Zielen der jeweiligen Phasen: In der zweiten Stufe geht es nicht primär darum, die Wirksamkeit nachzuweisen4. Vielmehr werden Sicherheitsaspekte untersucht, die wissenschaftlichen Fragestellungen genauer definiert oder die Methoden entwickelt und verbessert. Mit einigen hundert Teilnehmenden sind diese Studien in der Regel zu klein, um tatsächliche Verbesserungen durch die Behandlung zu sehen. Das geschieht erst in Phase 3, wenn etwa 300 bis 3.000 Menschen an der Studie beteiligt sind.
In der Pressemitteilung von Cassava Sciences1 ging es um eine vorläufige Untersuchung von 150 Patienten, von denen bisher nur 50 ausgewertet waren. Zudem gab es keine Kontrollgruppe, so dass die beobachteten Wirkungen allein durch den Placebo-Effekt entstanden sein könnten. Die Studie ist somit, wie es Lon Schneider von der Keck School of Medicine (University of Southern California) ausdrückt2, uninterpretierbar. Bestenfalls könnten Studien ohne Kontrollen dazu dienen, die Sicherheit der untersuchten Substanz und mögliche Effekte auf Biomarker einzuschätzen, schränkt Dr. Teipel ein.
Ein Problem, das aktuell für die meisten Alzheimer Studien besteht, ist die Messung der kognitiven Symptome selbst. Cassava Sciences nutzte dazu die etablierte ADAS-cog Skala (Alzheimer’s Disease Assessment Scale – Cognitive). Diese Skala besteht aus elf Kategorien, in denen verschiedene kognitive Fähigkeiten abgefragt werden5. Pro falsche Antwort bekommt der Patient einen Punkt, so dass am Ende ein Wert zwischen 0 (keine Beeinträchtigung) und 70 (größte Beeinträchtigung) herauskommt.
In den 1980ern wurde diese Skala entwickelt, um kognitive Dysfunktionen bei Alzheimer-Demenz einzuordnen – also in einem Stadium, in dem schon deutliche Beeinträchtigungen auftreten. Mit der Zeit wurde die Methode vermehrt bei Patienten mit milden bis mittleren kognitiven Problemen eingesetzt, wie auch in der Simufilam-Studie. Diese Skala ist der Goldstandard bei zahlreichen klinischen Studien, zugleich sind sich Firmen, Forscher und Zulassungsbehörden zunehmend darüber im Klaren, dass diese Skalen nur eingeschränkte Aussage bieten6. Daher wird aktuell nach neuen Verfahren zur Messung von Therapieeffekten gesucht.
Kognitive Tests seien aus Sicht der Patienten nicht das wichtigste Merkmal für ihren Alltag, gibt Dr. Teipel zu bedenken: „Ob man eine Wortliste abrufen kann oder nicht, spielt im täglichen Leben nicht notwendigerweise eine große Rolle.“ Es gebe zwar Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den kognitiven Funktionen und dem Funktionieren im Alltag, dieser sei jedoch nicht stark genug, um im Einzelfall Aussagen zuzulassen. Um zukünftig für die Patienten relevantere Messdaten ihrer Alltagsfunktionen zu bekommen, werde deshalb aktuell an digitalen Instrumenten geforscht. So könnten etwa bei wissenschaftlichen Untersuchungen nicht nur einzelne Zeitpunkte analysiert werden. Stattdessen wäre es möglich, kontinuierlich über Wochen – auch im häuslichen Umfeld – Messdaten zu sammeln. So könnten alltagsrelevante Funktionen besser erfasst werden. Allerdings bedarf es weiterer Studien, um solche Verfahren auch als Endpunkte zulassungsrelevanter Therapiestudien zu nutzen.
Was Simufilam betrifft, begann im März 2020 eine Phase-2-Studie, die Mitte 2023 enden soll7. In der Pressemeldung kündigte Cassava Sciences zudem den Beginn einer Phase-3-Studie für den Herbst 2021 an. Es bleibt also abzuwarten, wie hilfreich das Medikament tatsächlich ist.
Quellen:
Prof. Dr. Stefan Teipel, Leiter der Klinischen Demenzforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) Rostock https://www.dzne.de/forschung/forschungsbereiche/klinische-forschung/forschungsgruppen/teipel/forschungsschwerpunkte/
1. Cassava Sciences, 2021: Cassava Sciences announces positive cognition data with Simufilam in Alzheimer’s disease. Online unter: https://www.cassavasciences.com/news-releases/news-release-details/cassava-sciences-announces-positive-biomarker-data-simufilam (zuletzt aufgerufen am 24.08.2021)
2. STAT News, 2021: Alzheimer’s scientists critique Cassava Sciences‘ study results – overblown, inappropriate, uninterpretable. Online unter: https://www.statnews.com/2021/07/30/alzheimers-scientists-critique-cassava-sciences-study-results-overblown-inappropriate-uninterpretable/ (zuletzt aufgerufen am 24.08.2021)
3. Cummings J. et al. 2021. Alzheimer’s disease drug development pipeline: 2021. Alzheimer’s Dement. 7:e12179, doi: 10.1002/trc2.12179https://alz-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/trc2.12179
4. U.S. Food & Drug Administration (FDA): Step 3: Clinical Research. Online unter: https://www.fda.gov/patients/drug-development-process/step-3-clinical-research (zuletzt aufgerufen am 24.08.2021)
5. U.S. Food & Drug Administration (FDA): Administration and Scoring Manual Alzheimer’s Disease Assessment Scale – Cognitive (ADAS-cog). Online unter: https://www.fda.gov/media/122843/download (zuletzt aufgerufen am 24.08.2021)
6. Kueper J.K. et al. 2018. The Alzheimer’s Disease Assessment Scale – Cognitive Subscale (ADAS-Cog): Modifications and responsiveness to pre-dementia populations. A narrative review. J Alzheimers Dis. 63(2):423-444, doi: 10.3233/JAD-170991https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5929311/
7. NIH U.S. National Library of Medicine (ClinicalTrials.gov): Simufilam (PTI-125), 100mg, for Mild-to-moderate Alzheimer’s Disease Patients (PTI-125). Online unter: https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04388254 (zuletzt aufgerufen am 24.08.2021)
Bildquelle: Timur M, unsplash