Angesichts der steigenden Infektionszahlen wird immer mehr über Drittimpfungen diskutiert. Israel geht hier mit einem Biontech-Booster voran. Aber geben die Daten überhaupt Anlass dazu?
„Jetzt ist eine kritische Zeit“, sagte der israelische Gesundheitsminister Nitzan Horowitz, als der 56-Jährige am 13. August die Booster-Impfung gegen SARS-CoV-2 erhielt. Israel ist das erste Land, das eine dritte Dosis für über 50-Jährige anbietet. „Wir befinden uns im Wettlauf gegen die Pandemie“, so Horowitz. Israel gilt als Vorreiter der Corona-Impfkampagne. Aktuell verzeichnet das Land eine vollständige Impfquote von 62,91 Prozent. Doch derzeit steigt auch in Israel die Zahl der Corona-Infektionen rasch an: Die 7-Tage-Inzidenz liegt bei 589,8.
Die hohen Infektionszahlen zeigen, dass Durchbruchsinfektionen, trotz überwiegender Immunisierung durch mRNA-Impfstoffe, unvermeidlich sind. Die Diskussion über die vermeintlich schwindende Impfstoffwirksamkeit und die Daten aus Israel haben die Debatte um eine Booster-Impfung in den letzten Wochen weltweit angeregt. Das könnte auch in den USA und Deutschland zur Entscheidung für eine Drittimpfung geführt haben, obwohl die WHO den Booster stark kritisiert. Ihre Argumente: Es hätten noch nicht alle Länder weltweit Zugang zum Impfstoff und die Datenlage sei auch noch nicht eindeutig.
„Ich beobachte [israelische Daten] sehr, sehr genau, weil es einige der absolut besten Daten sind, die auf der Welt zusammenkommen“, sagt David O’Connor, ein Experte für virale Sequenzierung an der University of Wisconsin. „Israel ist das Vorbild“, stimmt Eric Topol, Arzt und Wissenschaftler bei Scripps Research, zu. Zum einen gebe es hier eine große Bereitschaft zur Impfung in der Bevölkerung, zum anderen werden ausschließlich mRNA-Impfstoffe verabreicht. Das sei sozusagen ein „experimentelles Labor“, von dem wir lernen können, so Topol.
Eine kürzlich veröffentliche Preprint-Studie weist auf eine schwindende Immunität bei Geimpften hin, insbesondere vor dem Hintergrund der Delta-Variante. Dazu wurden Daten des Maccabi Healthcare Services aus Israel ausgewertet, die eine Korrelation zwischen dem Zeitraum einer vollständigen Impfung und Durchbruchsinfektionen ermittelt. Dabei nahm der Schutz vor einer COVID-19-Infektion im Juni und Juli im Verhältnis zur Zeit seit Erhalt der Impfung ab. Menschen, die im Januar geimpft wurden, hatten ein 2,26-fach erhöhtes Risiko für eine Durchbruchsinfektion im Vergleich zu denjenigen, die im April geimpft wurden. Jedoch muss dabei berücksichtigt werden, dass Ältere, die ein schwaches Immunsystem haben, zuerst geimpft wurden. Dies könnte als möglicher Störfaktor mit einfließen.
Deutlich wird jedoch, dass die Durchbruchsinfektionen nicht selten sind. Am 15. August wurden 515 Israelis mit einer COVID-19-Infektion hospitalisiert. Davon waren 58,4 Prozent vollständig geimpft. „Es gibt so viele Durchbruchsinfektionen, dass sie dominieren und die meisten Krankenhauspatienten sind tatsächlich geimpft“, sagt Uri Shalit, ein Bioinformatiker am Israel Institute of Technology. „Eine der großen Geschichten aus Israel: ‚Impfstoffe wirken, aber nicht gut genug‘.“
Eine kürzlich erschienene Publikation weist jedoch auf ein mögliches statistisches Artefakt hinter der hoch diskutierten schwindenden Impfstoffwirksamkeit hin.
Auch wenn die Zahlen korrekt sind, können sie bezüglich der Impfstoffwirksamkeit irreführend sein und einfache Prozentsätze wie diese zu falschen Interpretationen führen. Demnach müssen weitere Faktoren sorgfältig in Betracht gezogen werden:
Die tatsächliche Impfstoffwirksamkeit in den einzelnen Altersgruppen ist sowohl bei der jüngeren und älteren Kohorte höher als die 67,5 prozentige Wirksamkeitsschätzung, die entsteht, wenn die Auswertung nicht nach Alter stratifiziert wird. Dies liegt am Simpson's Paradox. Bei dem statistischen Paradoxon scheint es, dass die Bewertung verschiedener Gruppen unterschiedlich ausfällt, je nachdem ob die Ergebnisse der Gruppen kombiniert werden oder nicht.
Aufteilung der Altersgruppen nach schweren COVID-19-Erkrankungen, Impfstatus und Impfstoffwirksamkeit. Credit: Jeffrey Morris (2021). Im Fall der Impfstoffwirksamkeit gegenüber schweren Erkrankungen liegt es wohlmöglich an der Tatsache, dass sowohl die Impfquote als auch das Risiko für eine schwere Erkrankung in der älteren Altersgruppe systemisch höher ist. Wenn nun eine Gesamtwirksamkeit ohne Stratifizierung nach Alter bestimmt wird, führt dies zu einem paradoxen Ergebnis, was deutlich geringer ist als die Wirksamkeit für jede einzelne Altersgruppe.
Alles in allem kann gesagt werden, dass die Impfstoffwirksamkeit nicht schlecht ist. Jedoch müssen in solchen Aussagen viele Faktoren berücksichtigt und herausgelegt werden. Statistische Artefakte wie diese können demnach nicht nur genutzt werden, um die Impfungen schlechter darzustellen, sondern auch, um sie besser aussehen zu lassen. Wenn z. B. der Zeitraum der Betrachtung erhöht wird, bis zu dem Zeitpunkt, in dem kaum ein Impfangebot bestand, steigt die Hospitalisierungsrate von Ungeimpften im Vergleich zu Geimpften.
Zur tatsächlichen Beurteilung der Impfstoffwirksamkeit und dessen Dauer müssen somit mehrere unabhängige Studien in Betracht gezogen werden und statische Verzerrungen ausgeglichen werden. Jedoch ist die aktuelle Datenlage dazu noch nicht ausreichend und eindeutig genug. Bei Betrachtung solcher Rohdaten wie aus Israel muss also sehr genau auf klassenspezifische Artefakte geachtet werden. Zu allgemeine Aussagen bieten Grundlage für Verzerrungen der Daten.
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