Obwohl Google bei seinem gehypten Glass-Projekt vorübergehend den Stecker gezogen hat, ist das Thema Datenbrille nicht vom Tisch. Gerade operativen Disziplinen bietet der sprachgesteuerte Kleinst-Computer Anwendungsmöglichkeiten. DocCheck machte den Praxistest.
Noch vor wenigen Wochen postete Apple-CEO Tim Cook voller Schadenfreude: “Wir wussten von Anfang an, dass Google Glass ein Flop wird.“ Er sollte sich täuschen. Hinter der Entscheidung, Datenbrillen aus dem Explorer-Programm zu nehmen, steckt vor allem ein Strategiewandel mit „Glass at Work“ als neuem Fokus. Dazu zählen Anwendungen für die Industrie und für die Medizin. Einige Business-Kunden haben das neue Gadget bereits erhalten. Googles Strategie: User, allen voran Ärzte, sollen selbst herausfinden, wofür sich die Brille eignet, und die weitere Entwicklung steuern.
DocCheck hat den Ball aufgefangen und einen schlanken Prototypen programmiert, der sich bei chirurgischen Eingriffen einsetzen lässt. Die Software beschränkt sich dabei zunächst auf das Wesentliche: Videoaufzeichnungen starten, pausieren und anhalten. Die entsprechenden Befehle können „Hands free“ gegeben werden – für den Operateur mit sterilen Handschuhen ein Muss. Was recht einfach klingt, erwies sich in der Praxis als knifflig - denn Google hat die Funktionen seiner Brille nicht gerade üppig dokumentiert. Hier muss der Suchmaschinen-Riese aus Mountain View noch kräftig nachbessern.
Privatdozent Dr. Navid Madershahian von der Klinik und Poliklinik für Herz- und Thoraxchirurgie der Uniklinik Köln nahm Google Glass und die DocCheck-App mit in seinen OP. Technik ist eines seiner Steckenpferde. Kein Wunder: Schon länger dokumentiert der Kollege Eingriffe, etwa für Lehrzwecke oder für Kongresse, aber eben mit normalen Kameras. „Die neue Ausrüstung bietet einige Optionen, um das Ganze zu vereinfachen“, so Madershahians erste Einschätzung. Ihm gefällt die Bauweise selbst: klein, leicht, gut zu tragen – auch bei längeren OPs. Aufnahmen erfolgen aus dem Blickwinkel des Operateurs, das macht Sinn. Angehende Herzchirurgen erleben die Eingriffe sehr authentisch. Auch gelingt es, ungewöhnliche Momente auf digitale Medien zu bannen. Madershahian: „Da sich die Brille permanent tragen lässt, erleben Studierende seltene, spannende Momente, die ansonsten oft verloren gehen.“ Nicht immer haben Ärzte eine Kamera herkömmlicher Bauart zur Verfügung. Neben der Ausbildung könnte Google Glass auch die Erhebung von Befunden und die Archivierung vereinfachen – bis hin zur Qualitätssicherung. Steht nach Monaten oder Jahren ein weiterer Eingriff an, der vielleicht sogar von anderen Kollegen ausgeführt wird, lässt sich die ursprüngliche OP ohne Aufwand nachvollziehen. Alles schön und gut? Leider nein - der Herzchirurg hat einige Verbesserungsvorschläge.
Defizite gibt es momentan vor allem beim Brillengestell: Je nach Gesichtsform und Augenabstand sitzt das teure Gadget schlecht. „Das Sprachverständnis ist auch noch nicht ganz ausgereift“, ergänzt Navid Madershahian. „Eventuell muss man Befehle mehrmals wiederholen“ – lästig in der Praxis. Zum harten technischen Kern: Google Glass stürzt häufiger ab, wird bei längerem Betrieb recht heiß, und der Akku hält nicht lange. Momentan beträgt die Betriebsdauer maximal 30 Minuten – „dann gehen unsere Operationen eigentlich erst richtig los“, so Madershahian.
Nicht nur Kardiologen beziehungsweise Chirurgen haben Interesse an der neuen Datenbrille. Andere Disziplinen profitieren ebenfalls. Jingyi Yu vom Department für Computer und Information, University of Delaware, sieht Einsatzmöglichkeiten, um Prothesen korrekt anzupassen. Er kennt die Problematik aus ingenieurwissenschaftlichem Blickwinkel. Normalerweise legen Arzt und Techniker 20 bis 30 Punkte fest und vermessen Patienten mit teuren Gerätschaften und mit hohem Zeitaufwand. Das muss nicht sein: Nimmt Google Glass Videos entsprechender Regionen auf, reichen schon 20-sekündige Clips. Mit seiner Datenbrille bewegt sich Yu um den Patienten und zeichnet alles auf. „Patienten und ihre Familien können das theoretisch sogar zu Hause durchführen und Daten auf einen Server laden.” Über spezielle Algorithmen geht es weiter an 3D-Drucker, um Prothesen herzustellen. http://youtu.be/D3zrn9jZXmM James C. Galloway, University of Dellaware, hat noch weitere Ideen: Schon heute filmen Eltern jede Bewegung ihres Nachwuchses. Warum nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden? Google Glass liefere Daten, aus denen Rückschlüsse auf Entwicklungsstörungen oder körperliche Beeinträchtigungen möglich seien, erklärt der Forscher. Daraus entwickelte sich sein GoBabyGo-Projekt. Bislang mussten Experten Videos zeitaufwändig aufnehmen und analysieren – jetzt übernimmt das Gadget entsprechende Aufgaben.