Jeder kennt sie – Patienten, die kein Gespür für ihre eigene Gesundheit haben. Wir Ärzte werden als Wunderheiler aufgesucht, für vermeidbare Probleme oder Befindlichkeitstherapien. Aber wir sind keine Mechaniker und Patienten keine Autos.
Ich hatte mich ja in einem früheren Artikel mal über Sätze ausgelassen, die ich am liebsten von Patienten nicht mehr hören möchte. Es gibt aber eine Frage, die ich sehr mag:
„Frau Doktor, was kann ICH denn (noch) machen, damit es besser wird?“ Ich finde diesen Satz super, auch wenn mein Gefühl ist, dass er immer seltener wird.
Warum? Weil er ein Körper/Lebensverständnis ausdrückt, in dem der Körper kein Auto ist, das man einfach in die Werkstatt (also meine Praxis) zur Reparatur gibt und nachher heil wieder abholt. Sondern in dem man selbst schaut, was man zur Verbesserung beitragen kann. Das ist aus zwei Gründen extrem wichtig.
Traurig aber wahr: Sehr viele chronische Erkrankungen heutzutage sind „Lifestyle“-Erkrankungen, d.h. ein oder der Haupt-Einflussfaktor ist im Endeffekt das Verhalten des Patienten im Alltag. Beispiele sind Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck, aber auch z.B. „unspezifische“ Rückenschmerzen. Es ist nun mal so, dass unser Körper evolutionär an einen anderen Lebensstil angepasst ist als wir ihn heute führen. Unser Körper ist angepasst an viel Bewegung, weniger „kaloriendichte“ Nahrungsmittel mit vielen Ballaststoffen und ein Wechselspiel aus Ruhe oder akutem, schnell lösbarem Stress (z.B. ein Raubtier, gegen das man entweder kämpft oder vor dem man flüchtet, also das Problem schnell körperlich lösen kann bzw. muss).
Was geben wir ihm? Wenig Bewegung, Nahrungsmittel mit viel Kalorien und viel Zucker, aber wenig sonstigen Nährstoffen und „chronischen Stress“, d.h. viele Menschen sind konstant in Alarmbereitschaft, ohne dass sie das Problem mit körperlicher Aktivität schnell aus dem Weg schaffen könnten. Damit kommt unser Körper schlecht klar.
Deswegen wirken bei vielen „Lifestyle“ Erkrankungen unsere Medikamente nur begrenzt (bestes Beispiel Rückenschmerzen): Die Eigeninitiative des Patienten und seine Motivation, etwas zu ändern (z.B. mehr Bewegung/Sport), ist viel wirksamer als ein Schmerzmittel.
Der andere (für mich manchmal fast noch wichtigerer) Punkt ist, dass der Patient auf diese Art an der Behandlung beteiligt wird. Behandlung ist nicht etwas, was „mit dem Patienten gemacht wird“, sondern etwas, bei dem der Patient selbst aktiv werden kann. Das Schlagwort lautet „Selbstwirksamkeit“ – der Patient erlebt sich selbst als „wirksam“ für die Besserung seiner Beschwerden. Selbstwirksamkeit gilt als wichtiger Faktor für die seelisch/emotionale Widerstandskraft, die Resilienz.
Leider habe ich das Gefühl, dass gerade jüngere Leute dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit häufiger nicht mehr haben. Natürlich gilt das nicht für alle, aber wenn teilweise Jugendliche mit 15 Jahren zu mir kommen, weil sie das Gefühl haben, dass sie nach einem umgeknickten Knöchel erst einmal mindestens 6 Termine Physiotherapie brauchen, dann finde ich das schon befremdlich.
Um das an dieser Stelle nochmal ganz klarzustellen: Natürlich kann man leider nicht alle Erkrankungen selbst behandeln und natürlich haben wir auch sehr viele junge Patienten, die sich sehr aktiv und konstruktiv an ihrer Therapie beteiligen und auch ältere Patienten, die eher wenig Grund sehen, sich selbst zu beteiligen, sondern mit denen vor allem etwas „gemacht“ werden soll (klassisch: Massage statt eigener Rückenübungen).
Jetzt kann man einwenden, dass es aber doch viele junge Leute mit Fitness-Trackern und anderen Gadgets gibt, mit denen der Körper „optimiert“ werden soll. Aber eigentlich meine ich genau das: Es geht nicht mehr um das natürliche Körpergefühl und um Sachen, die ganz normal in den Alltag integriert werden können. Stattdessen brauche ich Technik, die mir sagt, ob mein Körper „richtig funktioniert“. Was sagt das über unser Selbstverständnis als Mensch aus?
Ich frage mich oft, ob unsere immer weiterführende Spezialisierung und Technisierung die Leute dazu bringt, dass sie ihrem Körpergefühl und den Selbstheilungskräften nicht mehr trauen. Als würden sie quasi etwas falsch machen, wenn sie darauf achten, wie sie sich fühlen. Oder etwas kaputtmachen, wenn sie versuchen, kleinere Wehwehchen erstmal selbst zu behandeln – also „sollte besser ein Fachmann ran“ – oder eben Technik, die „objektive Messwerte“ erstellt. Ein Beispiel für letzteres ist, wenn Patienten mit ihrer Fitness-Uhr bei mir in der Praxis sitzen und erklären, ihre Uhr würde ihnen sagen, dass sie nicht gut schlafen – aber sie selbst fühlen sich nicht müde. „Aber wenn die Uhr das misst, dann muss da doch was dran sein.“
Andererseits fällt es natürlich auch manchen (gefühlt eher den jüngeren) Patienten schwer, dass wir in allen technischen Untersuchungen nichts finden, obwohl sie sich nicht so gut fühlen, wie sie wollen. Oder sie sich kranker fühlen, als alle messbaren Parameter es hergeben. Dieses Einschätzen der eigenen Gefühle/Befindlichkeiten scheint aus meiner Sicht ebenfalls schwieriger zu werden.
Woher kommt das? Ich weiß es nicht. Ich habe da einige Theorien, die aber – fürchte ich – für diesen Beitrag zu lang werden. Deswegen würde ich mich über Kommentare zu dem Thema sehr freuen. Ist dieses Gefühl bei anderen auch so? Woher kommt das?
Denn ich bin mir sicher: Wenn wir verhindern wollen, dass nur noch nach medizinischen Interventionen gerufen wird (mit den entsprechenden explodierenden Kosten), müssen wir dringend das Gefühl für den eigenen Körper und die eigenen Fähigkeiten bei den Patienten stärken. Denn diesen Körper können wir nicht austauschen, sondern wollen alle möglichst lange, gut und gesund in ihm leben.
Bildquelle: Ryan De Hamer, unsplash