Neulich las ich einen Artikel, der mich geärgert hat – sind heutige Jobs wirklich schuld daran, dass immer mehr Schmerzmittel und Antidepressiva verordnet werden? Ganz ehrlich: Ich glaube nicht daran.
In einem PZ-Artikel sah ich neulich etwas, das mir schon beim ersten Lesen gegen den Strich ging. Zuerst konnte ich nicht gleich festmachen wieso, aber da stand eine Ungereimtheit, die ich gerne kommentieren möchte:
Den Anstieg im Gebrauch solcher Medikamente mit den heutigen Arbeitsbedingungen in Zusammenhang zu bringen, empfinde ich als gewagt. Hat es nicht vielleicht eher etwas damit zu tun, dass es langsam endlich enttabuisiert wird, zu sagen, dass man mit Schmerzen, psychischen Erkrankungen oder Depression kämpft? Tatsächlich beobachte ich persönlich, dass Rezepte über Antidepressiva immer häufiger auch für jüngere Patienten ausgestellt werden. Aber hat das etwas mit den Arbeitsbedingungen zu tun?
Das Thema hat mich irgendwie umgetrieben, denn meine Arbeit als PTA ist für mich eine der Quellen meiner Lebensfreude (ich weiß natürlich, dass ich privilegiert bin, weil ich genau das tun darf, das mir gefällt). Was ich häufiger beobachte, wenn ich hinter dem HV Antidepressiva an Menschen abgebe, die altersmäßig zur arbeitenden Bevölkerung gehören, ist, dass ich sie an – in den Augen der Gesellschaft – gescheiterte Frauen und Männer abgebe. An die, die es nicht geschafft haben, einen hochdotierten Job zu ergattern; an die, die keine Familie gegründet haben, obwohl sie das gerne gewollt hätten; an die, denen nicht täglich in den (un-) sozialen Medien die Sonne aus dem Allerwertesten scheint. An die Einsamen, an die „Seltsamen“, an die, die irgendwie nicht wie geschmiert im ewigen Räderwerk mitrotieren.
Meist sind diese Menschen – wie alle anderen Apothekenkunden auch – recht kurz angebunden. Manchmal reden sie auch mit uns, wie die Leute mit ihrem Friseur plaudern. Dann erfährt man auch etwas über die Gründe der Verschreibung und die liegen oft im persönlichen Bereich. Langes Alleinsein nach einer gescheiterten Beziehung, der Tod naher Angehöriger, schwere körperliche Erkrankungen gehören dazu. Dass sich jemand über seine Arbeitsbedingungen beklagt, habe ich dagegen in über 20 Jahren hinterm Tresen noch nie gehört.
Da mich das Thema nicht losgelassen hat, habe ich ein wenig geforscht. Kann ja nicht sein, dass es dazu keine representative Studie gibt, nicht wahr? Et voilà: Die Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft hat zu dieser Fragestellung das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München mit einer Studie beauftragt, die Interessantes zutage förderte. Demnach ist es nicht nur so, dass Arbeitsbedingungen so gut wie gar keinen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Arbeiter hatten, es gab nicht einmal einen Nachweis für eine Zunahme psychischer Erkrankungen.
Dabei wird doch überall behauptet, dass psychische Erkrankungen statistisch gesehen immer häufiger vorkommen – stimmt das? Laut dieser Studie ja, denn:
So. Warum stellt jetzt die Linke (eine Partei, der ich grundsätzlich nicht negativ gegenüberstehe, das nur als Anmerkung) eine schriftliche Anfrage zum Gebrauch von Schmerzmitteln und Psychopharmaka? Die Bundesregierung hat übrigens mit Zahlen aus dem Arzneiverordnungsreport von 2010–2019 geantwortet, wonach die definierten Tagesdosen (DDD) bei Antidepressiva von 1.174 Millionen DDD im Jahr 2010 auf 1.609 Millionen DDD im Jahr 2019 gestiegen waren. Doch ist das eine adäquate Antwort? Nein, denn hier findet sich nicht die Anzahl der betroffenen Menschen.
Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linken „vermutet“ lediglich, „dass viele psychische Probleme und Schmerzen [auf Belastungen im Arbeitsleben] zurückgeführt werden können“. Belegt hat sie ihre Vermutungen jedoch nicht. Für mich ein klassisches Wahlkampfding, denn die Linke setzt sich bekanntlich für die 4-Tage Woche und maximal 40 Stunden Höchstarbeitszeit ein (was für mich ein völliges Unding wäre, denn DANN würde ich vielleicht depressiv werden).
Ein alter Freund, mit dem ich über das Thema gesprochen habe, meinte, dass es sich nicht als Aufhänger für einen Artikel eignet, denn es fehlt der „Schuldige“ an der Mehreinnahme der genannten Medikamente, weil die Gründe für die Einnahme zu vielschichtig sind. Einer davon könnte sein, dass unsere Elterngeneration immer auf ein Ziel hinarbeitete – dass es uns besser gehen möge – und jetzt ist es erreicht. Wir fragen uns, ob das Erreichte nun auch wirklich gut genug ist und zerpflücken den Zukunftstraum von damals.
Ja, vielleicht hat er Recht. Und doch muss ich ihn schreiben, meinen Blogartikel, denn andere scheinen da einen Schuldigen anprangern zu wollen (die Arbeitswelt per se), der es nicht ist. Offenbar liegt es auch an der Zählweise (Statistik oder DDD), ob hier überhaupt ein Anstieg an Betroffenen zu verzeichnen ist. Das ist vermutlich bei den DDD der Schmerzmittel nicht anders. Was meint ihr dazu?
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