Ich bin heute ein anderer Kinderarzt als früher. Hustensaft? Mit dem Rezept ging damals wirklich jeder Patient aus unserer Praxis. Und ja – auch ich dachte, Globuli verordnen zu müssen.
Nach beinahe zwei Jahrzehnten als Kinder- und Jugendarzt in eigener Praxis fallen mir im Rückblick einige Dinge auf, die ich heute anders mache als am Anfang der Niederlassung. Damals noch unbedarft, noch bestrebt, alles richtig zu machen und viel näher dran an der Facharztprüfung als heute, ändert sich im Laufe der Arbeit und vor allem der Erfahrung einiges. Sehr wenig hat das mit Änderung der Leitlinien oder der pädiatrischen Erkenntnisse zu tun. Es sind eher Dinge, von denen ich dachte „sie müssten eben so sein“ oder „so geht das nun einmal“.
Je mehr Patienten durch die Behandlungsräume liefen, desto mehr „learning by doing“ stellte sich ein. Das bedeutet, du kannst als Hausarzt im Grunde deine eigenen Empfehlungen aussprechen (natürlich immer aus der Literatur gedeckt, aber es gibt ja Spielräume). Wenn die Eltern und die Kinder gut damit zurechtkommen, bleibst du dabei. Viel davon hat mit Reduktion zu tun, mit dem „nicht immer alles machen“, sondern vor allem das Sinnvolle.
Hier ein paar Beispiele:
Damit hast Du in der Klinik nichts zu tun. Hustensäfte sind etwas für Niedergelassene oder Apotheken. In der Klinik wird inhaliert, Infusionen angehängt, Atemgymnastik verordnet. Die wenigen Luftwegsinfekte in der Ambulanz (vor 20 Jahren) waren pillepalle, die Hustenlöser kann „ihr Kinderarzt bei der Kontrolle verordnen“. Ganz schön abgehoben.
Außerdem dachte ich damals, Hustensäfte gehören zur Behandlung von Kleinkindern dazu. Hustenlöser, Schleimlöser, Hustenstiller, seien sie pflanzlich oder chemisch. Hinzu kam, dass mein Vorgänger, von dem ich die Praxis übernommen hatte, Hustensäfte verordnet hatte, als seien sie Gummibärchen. Jeder Patient, JEDER Patient, ging mit einem Rezept aus der Tür. Das musste wohl so. Angeblich, weil sonst die Eltern nicht zufrieden seien.
In den Leitlinien finden sich praktisch keine Hustensäfte. Wen wundert es, sie sind zur Genesung überflüssig. Verzögern mitunter dieselbe, sind im Kindesalter zudem quietschsüß oder alkoholisiert. Ein Kind mit Bronchitis wird sich über einen Schleimlöser „freuen“, hat es doch schon genug Schleim in den Bronchien. Ein Hustenstiller käme einem Kunstfehler gleich. Und bei einfachen Erkältungen ohne Lungenbeteiligung tut es die ausreichende Flüssigkeit, Honig und warmer Tee. Eine Bronchitis wird inhaliert.
Das Nichtmehrverordnen von Hustensäften kostete viel Aufklärungsarbeit. Aber die Eltern dankten es einem, vor allem, weil sie den Sinn bzw. Unsinn verstehen, der dahinter steht. Glücklicherweise wurde auch in den Leitlinien und der Populärliteratur mehr und mehr von Medikamenten wie Ambroxol abgeraten, manche Hustenmittel (wie die Wirkstoffkombination Clenbuterol und Ambroxol) sogar aus der Verordnungsfähigkeit genommen. Schlimm genug, dass sie weiter verkauft werden.
Noch so ein Thema, mit dem sich der Kinderarzt erst in der Niederlassung auseinandersetzen muß: „Mein Kind schläft nicht“. Jetzt kannst du als Frischling Literatur wälzen, findest aber nur populärwissenschaftliches, vor allem den Klassiker „Jedes Kind kann schlafen lernen“. Und denkst auch als Arzt, das muss es jetzt sein. Dazu kommt die Erfahrung bei den eigenen Kindern – und schon sind die Empfehlungen für die gestressten Eltern gestrickt.
Während wir, ach was, alle, also auch Hebammen und die Schwiegermütter damals propagierten, jedes Kind kann wirklich schlafen, wenn man es nur lange genug schreien lässt, denken wir heute glücklicherweise anders darüber: Jedes Kind darf schlafen, wie es will und wo es will, es darf getragen werden, es darf bei den Eltern schlafen, oder auch im eigenen Zimmer. Ganz wie die Familie das für sich entschieden hat. Alles stimmt, was funktioniert. Die Schwiegermütter haben sich noch nicht geändert.
Letztens hielt ich eine Broschüre für junge Eltern in der Hand „Säuglingsernährung“, datiert 1995. Erstaunlich, wie nahe die damaligen Empfehlungen an den heutigen waren, wie fortschrittlich wir auch da schon empfohlen haben. Denn: Nur das Klischee sagt beispielsweise Beifüttern ab 4. Monat, dabei Abstillen, immer nur ein Gemüse, alles ganz langsam und Schritt für Schritt. So ein Quatsch.
Schon Ende der Neunziger, und gerade nach der Jahrtausendwende, empfehlen wir ein viel entspannteres Beifüttern. Stillen ist begleitend immer und lange in Ordnung und gewünscht, das entscheiden Mutter und Kind für sich. Die erste Anfangsnahrung dürfen einzelne Gemüse sein, sie sind nur zur Übung gedacht. Und jetzt kommt es: Je zügiger die Befütterkost an die Familienkost herangeführt wird, umso besser. Wenn das schon mit acht Monaten der Fall ist, dann ist das eben so. Dazu gehört dann auch „finger food“, das heute als baby-led-weaning als der heißeste Scheiß gefeiert wird, aber eigentlich schon ewig empfohlen wird.
Was hat sich aber dann nun in meinen Empfehlungen geändert? Vor allem, was die Inhaltsstoffe der Ernährung angeht. So gab es noch vor einigen Jahren die Einschränkungen von Kuhmilch, Getreide, also Gluten, Fisch, Ei und dergleichen mehr. Das ist gefallen. Heute darf alles zügig und früh beigefüttert werden. Dachten wir „früher“, das späte Befüttern würde Allergien herauszögern, ist es heute genau anders – die frühe Auseinandersetzung mit den verschiedenen potenziellen Allergenen beugt Allergien sogar vor.
Aber: Honig ist weiter tabu im ersten Lebensjahr.
Das lässt sich kurz machen: Inhalationen mit Kochsalzlösung sind so etwas von out.
Wenn ein Kind heute inhalieren muss (weil es eine obstruktive Bronchitis hat oder eine Lungenentzündung), wird nur noch „trocken“ inhaliert, also mit einem Pulver oder Spray, bei kleinen Kindern mit einer Inhalationshilfe (z. B. „Vor.tex.“-Chamber).
Als ich in der Niederlassung angefangen hatte, gehört das Verneblersystem mit den vier Buchstaben zur Standardausrüstung jedes Kinderhaushaltes. Heute weiß man: Kochsalzinhalationen bringen keinen Nutzen in der Abheilung eines einfachen Erkältungsinfektes. In aller Regel wird sowieso falsch inhaliert, außerdem sind die Kochsalzlösungen isotonisch und haben keinen Effekt auf die Schleimlösung (siehe Hustensäfte). Ja, und auch kleine Säuglinge können „trocken“ inhalieren, wenn sie wirklich Medikamente zum Inhalieren benötigen.
Ja, doch. Auch ich dachte, als Kinder- und Jugendarzt brauchen die Eltern Homöopathie. Ganz ehrlich: Ich hatte mich weder mit der Nichtwirkungsweise, noch den Streitpunkten der Homöopathie auseinandergesetzt. Die Befürworter haben Recht: Globuli finden im Studium nicht statt, jedenfalls in meinem.
Also war ich der Auffassung, Globuli gehören dazu. So wie die Hustensäfte. Da ich keinerlei Ausbildung habe in dieser Glaubensrichtung, beschränkte ich meine Verordnungen auf ein wenig „O-sa-nit“ hier, ein wenig Thuja da, … stop. Und gab diesen Mist genau zwei Wochen nach meiner Niederlassung wieder auf.
Als frisch Niedergelassener bildest du dich noch schneller fort als in der Klinik, denn nun geht es nicht mehr um facharztprüfungsrelevante Themen, sondern um den Alltag. Ich las also mehrere Papers, bestenfalls Übersichtsarbeiten zur Homöopathie und beschäftigte mich aus wissenschaftlichem Ansatz damit. Versuchte also, mir das physikalischpharmaklogischchemische Prinzip der Globuli näherzubringen. Kurz gesagt – ich bin gescheitert. Und da ich nicht hinter fragwürdigen Therapien stehe, die ich nicht mit meinem einfachen Verstand verstehen kann, war es das mit den Globuli in meiner Praxis.
Über die Jahre hat sich aber noch mehr geändert: Ich versuche, aktiv gegen die Homöopathie vorzugehen, als Mitglied der GWUP. Man darf Eltern nicht in ihrem Glauben belassen, Globuli würden irgendetwas bewirken. Hier ist nichts tun besser als Zuckerkügelchen zu streuen.
Impfungen sind ein großes Thema in der Kinder- und Jugendarztpraxis, das zu schreiben, ist der banalen Erwähnung schon zuviel. Aber ich wusste am Anfang nicht, dass es ein so großes Thema ist. Ich hatte die naive Vorstellung, dass Eltern den Empfehlungen der Experten Vertrauen schenkten und dem empfohlenen Impfschema uneingeschränkt zustimmen. Weit gefehlt.
Nun ja, dachte ich, dann dürfen Eltern natürlich entscheiden, welche Impfungen sie für ihr Kind möchten und welche nicht. Also habe ich am Anfang zwar zu den empfohlenen Impfungen beraten, letztendlich mich aber großzügig der Entscheidung der Eltern gebeugt. Manche Impfung wurde „liegengelassen“.
Geändert hat sich das mit Einführung der Windpockenimpfung, die kurz nach meiner Niederlassung ausgesprochen wurde. Sie war ein Segen für die Eltern, die Kinder und auch die Praxen.
Wir hatten sonst mindestens täglich einen Windpockenfall in der Praxis, Diskussionen und Erklärungen, wie lange das Kind nicht mehr in Kindergarten oder Schule darf und vor allem so manche Komplikationen. Selten konnten wir im Alltag der Kinder eine so deutliche Veränderung erleben wie bei der Einführung der Windpockenimpfung, vergleichbar nur der Pocken- oder der Masernimpfung. Viele der anderen impfpräventablen Erkrankungen sind seltener. So selten, dass der Luxus der Rarität die Eltern über die Gefährlichkeit der Erkrankungen täuscht.
Seither bin ich klarer in meinen Empfehlungen. Mit dem Aufkommen des Internets und den mehr als fragwürdigen „Beratungsseiten“ zu Impfungen brauchen Eltern eine klare Haltung ihres Kinder- und Jugendarztes. Und während ein Teil der Eltern ihre Kinder vertrauensvoll nach den STIKO-Empfehlungen impfen lassen, lehnen andere genauso überzeugt die Impfungen ab. Diese haben keine Zukunft in unserer Praxis, zu schief ist das Vertrauensverhältnis. Aber alle anderen „dazwischen“ lassen sich überzeugen. Da gebe ich auch so schnell nicht auf. Und ich bin altersweiser geworden.
Ich bin kein Pädagoge. Trotzdem werden Kinder- und Jugendärzte prozentual sicher mehr zum Verhalten der Kinder befragt als alle anderen mit Kindern betroffenen Berufsgruppen. Wir sind erste Anlaufstelle, wir sehen die Kinder in ihrer Entwicklung, wir haben mit ihnen regelmäßige Vorsorgetermine. Und schon sind wir mitten in der Erziehungsberatung.
Aber – und hier kommt die Änderung – wenn ich „früher“ etwas zu Eltern gesagt habe, weil sich Kleinheinzi oder Schnuckelmariechen auffällig verhielt in der Praxis, so mache ich das „heute“ nur noch auf Anfrage. Denn: Familien sind ein hochkomplexes Verhaltenssystem, Kinder sind in der Praxis anders als zuhause oder auf dem Spielplatz. Wenn Eltern mit ihren Kindern Probleme haben, dann habe ich ein Ohr für sie, aber ich werde mich hüten, sie ohne Nachfrage zu kritisieren.
Nur eins habe ich gelernt: Kinder sind nicht „so“ oder „so“, sondern sie sind „so“, weil wir sie gerne „anders“ hätten. Das Verhalten von Kindern ist vor allem geprägt davon, wie wir als Eltern oder Erzieher auf sie reagieren. Deshalb sollte jegliche Therapie, die das Verhalten eines Kindes beeinflussen soll, zunächst an die Eltern gerichtet sein.
Ein Kind – wenn es denn sein muß – wird sich nur ändern, wenn sich das Verhalten der Erwachsenen um es herum ändert. Viele Therapien im Kindesalter könnten wir uns sparen, wenn unsere Gesellschaft endlich „das Kind da abholt, wo es steht“ und es nicht da hinschubst, wo es stehen soll.
Das waren ein paar Dinge, die ich heute anders mache als noch vor Jahren. Für alle Kollegen, die hier mitlesen: Was macht Ihr heute anders?
Bildquelle: Sharon McCutcheon, Unsplash