Eine erweiterte Meldeverordnung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) von Juli 2021 besagt: Künftig müssen für alle im Krankenhaus behandelten Corona-Patienten Alter, Art der Behandlung und Impfstatus gemeldet werden. Das BMG erhofft sich dadurch mehr Informationen zu allen klinisch behandelten COVID-19-Patienten. Die Hospitalisierung solle als zusätzlicher Leitindikator miteinbezogen werden. Sicher seien „weiterhin mehrere Indikatoren zur Bewertung notwendig, aber die Gewichtung der Indikatoren untereinander ändert sich“.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte schon vor Wochen erklärt, die Inzidenz verliere an Aussagekraft. Als Begründung nannte er, dass die gefährdeten Gruppen geimpft seien und es weniger Krankenhauseinweisungen gebe.
Der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI) Prof. Dr. Lothar Wieler hatte laut ARD auf einer Schaltkonferenz zwischen Kanzleramtschef Dr. med. Helge Braun und den Chefs der 16 Staatskanzleien betont, an der Inzidenz als „Leitindikator“ festhalten zu wollen und ein Papier zu einer Niedrig-Inzidenz-Strategie vorgestellt. Inzidenz heißt in dem Papier neu: „Leitindikator für Infektionsdynamik“.
Jens Spahn widersprach. Wir brauchen neben der Inzidenz „zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten“, etwa die „Zahl der neu aufgenommenen COVID-19-Patienten im Krankenhaus“, so der Bundesgesundheitsminister gegenüber Bild. Damit ist Spahn nicht allein.
Der Medizinstatistiker Prof. Dr. Gerd Antes hält die Fokussierung auf die Inzidenz für fehlerhaft. Zur RKI-Schlussfolgerung „Je höher die Inzidenz, desto schlechter gelingt der Schutz der Individualgesundheit und der offenen Gesellschaft“ behauptet er: „Ein Blick auf UK, Schweiz und Schweden zeigt, dass diese Aussage grob falsch ist.“ Er moniert: Kein Wort zu der inzwischen an vielen Stellen diskutierten Entkoppelung der Inzidenz von Hospitalisierung und Letalität: „Im gesamten Fazit an keiner Stelle eine altersadjustierte Auswertung und altersspezifische Auswertungen zu fordern, ist fachlich ein grober Fehler“.
Der Infektionsepidemiologe Prof. Dr. Gérard Krause kritisiert Fixierungen auf Labordiagnostik und Fallzahlen: „Aber wenn man [diese] zum alleinigen Richtwert aller Maßnahmen macht, führt das zu falschen Schwerpunkten und vermeidbaren Nebenwirkungen“, sagt er der Welt . „Sorgen müssen wir uns machen, wenn auch die Zahl der Krankenhaus-Einweisungen und die der Todesfälle deutlich ansteigen. Das ist im Moment nicht erkennbar“. Und weiter: „Dass die Fallzahlen steigen, ist nicht überraschend: Die Maßnahmen wurden gelockert, durch die Urlaubsreisen hat die Mobilität zugenommen. Dazu kommt, dass die Delta-Variante deutlich leichter übertragbar ist. Die Kombination dieser Faktoren führt zu mehr Fällen...Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen“. Bedeutsamer sei die Krankheitslast. Die Hospitalisierung sei „wertvoller zusätzlichen Indikator“, auch die SARS-CoV-2 bedingte Sterblichkeit ein Indikator. Wünschenswert seien auch Krankheitslast-Merkmale wie die COVID-19-bedingte Arbeitsunfähigkeit.
Wir befinden uns in der Übergangsphase von der Pandemie in eine Endemie“ behauptet Epidemiologe Prof. Dr. Klaus Stöhr im WDR : „Ein Großteil der Bevölkerung ist geimpft, die Sterbezahlen nehmen ab oder sind stabil, die Melde-Inzidenz nimmt zu – jetzt müsste man sich was anderes einfallen lassen. Wenn man etwas Komplexes messen will, reicht eben nicht nur ein Wert“. Wie viele Personen sich wegen COVID-19 auf Intensivstationen (ITS) befinden, die Hospitalisierungsrate und den R-Wert müsse bekannt sein: „Aus diesen Zahlen formt man eine Größe, und danach entscheidet man.“ Die Melde-Inzidenz habe sich abgelöst von der Realsituation, von den Todesfällen, von der ITS-Belegung. „Die ganze Krankheitslast sieht gegenwärtig ganz anders aus. Jetzt erkranken viele junge Menschen, meist asymptomatisch ohne große Auswirkungen, jetzt wird die Inzidenz steigen auf 50, 70 oder 100 – das sieht man ja auch in England – aber gleichzeitig bleiben ja die ITS in Deutschland leer. Will man jetzt wegen 50 asymptomatischen Kindern in einer Gemeinde die Geschäfte wieder schließen?“ Stöhr wirbt für seinen Stufenplan: „Jetzt heißt es neue Parameter finden, wie man die Kontakte beschränkt, wie man auch weiterhin versucht, die Zahl der schweren Fälle zu reduzieren. Die Melde-Inzidenz reicht jetmzt nicht mehr aus“. Stöhr verweist auf die Niederlande, in deren Pandemieplan 3 Größen relevant sind: Die Melde-Inzidenz, die Krankenhaus-Einweisungen und die Intensiv-Belegung. „Nach diesem Stufenplan wird entschieden, und das scheint ja zu funktionieren.“ Allerdings ist gerade NL jüngst wieder einmal zum Hochrisikogebiet erklärt worden.
Auch Prof. Dr. Christian Karagiannidis wirbt für mehr Parameter zur Einschätzung der Pandemiesituation: „Die Intensiv-Belegung und Neuaufnahmen bleiben zwar wichtig, aber sie werden durch den Schutz der vulnerablen Gruppen nicht mehr so stark und schnell steigen, sofern sich die 4. Welle nicht zu schnell aufbaut. Ich plädiere sehr stark für einen Dreiklang aus Inzidenz (Infektionsdynamik), Intensiv-Belegung und -Neuaufnahmen sowie Krankenhaus-Neuaufnahmen.“ Der Dreiklang werde helfen, die Situation präziser einschätzen zu können, so der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)
Prof. Dr. Christoph Rothe, Lehrstuhls für Statistik, Universität Mannheim, fordert, „künftig detailliertere Daten aus Krankenhäusern bei der Beurteilung der pandemischen Lage zu berücksichtigen“. Es sei „schon immer problematisch, Melde-Inzidenzen für die Beurteilung der pandemischen Lage heranzuziehen“. Diese seien zu stark von der verwendeten Teststrategie abhängig bzw. von Feiertagen und Ferienzeiten beeinflusst. Mit steigenden Impfquoten entkoppelten sich die Inzidenzen immer weiter von der Sterblichkeit und den Krankenhaus-Einweisungen. Rothe betont eine vollständige, zeitnahe und öffentliche Datenerhebung, die in Entscheidungen zum Infektionsschutz berücksichtigt werden sollen.
Prof. Dr. Andreas Schuppert, Lehrstuhl für Computational Biomedicine, Aachen Institute for Advanced Study in Computational Engineering Science (AICES): „Von der Seite der Krankenhäuser und der schweren Fälle wäre es höchste Zeit, gute, belastbare Daten zu bekommen und die Unsicherheiten, die wir haben, möglichst schnell auszuräumen. Ich glaube nach wie vor, dass die Inzidenzen ein gutes Maß sind, besonders in Deutschland, wo wir ja die Aufnahmedaten nicht haben, zumindest nicht in guter Qualität, sind die Inzidenzen ein guter, schneller Marker, den man nicht vernachlässigen sollte, wenn man ihn richtig gewichtet.“ Nach Schuppert sei die Datenlage bei Weitem nicht so, wie sie sein sollte: „Wir wären klug beraten, die Sommermonate jetzt zu nutzen, in denen ich auch nicht mit großen Anstiegen rechne, um uns für den Herbst vorzubereiten und wirklich belastbare Daten kontinuierlich zu erfassen. So können wir dann auch rechtzeitig Maßnahmen ergreifen bzw. warnen. Das wäre ein großer Wunsch.“
Meines Erachtens ist ein Dreiklang von krankheitsspezifischer, altersadjustierter Inzidenz im ambulanten/stationären Bereich, Intensivbetten-Belegung und Krankenhaus-Einweisungen zielführend.
Bestechender Vorteil ist, dies gilt für alle vergangenen und zukünftigen Pandemien gleichermaßen.
Endlich werden Säuglings-, Kleinkinder-, Schulkinder-, Adoleszenten-, junge Erwachsenen-, Erwachsenen-, Senioren- und Hochbetagten-Inzidenzen, -Intensivbetten-Belegung und -Krankenhaus-Einweisungen altersgruppenspezifisch erfasst und ausgewertet.
Absurditäten sind dabei jedoch nicht ausgeschlossen:
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete gestern, am Samstag, 07.08.2021, 3206 Neuinfektionen und 24 neue Todesfälle. Die 7-Tage-Inzidenz ist damit in Deutschland von 11-15 der Vorwochen auf 21,2 angestiegen. Das ist immer noch, entgegen laienhafter Interpretationen fachlich völlig inkompetenter Politiker, auch wenn ein einziger von ihnen mal Anästhesist war, extrem wenig!
Mit Stand von vorgestern, Freitag, den 06.08.2021 lag die 7-Tage-Inzidenz in Großbritannien bei 269,0 weit über 10-fach höher als in Deutschland. Trotzdem interpretierten dies ein anscheinend nicht mehr ganz zurechnungsfähiger Ministerpräsident Boris Johnson gemeinsam mit offensichtlich regierungstreuen Medien als grandiosen Sieg und Erfolg gegen die COVID-19/SARS-COV-2 Pandemie. Was alle diese Leute uns gerne verschweigen: Wenige Wochen vorher lag die 7-Tage-Inzidenz noch bei Werten um 500 massiv überhöht!