Die pauschale Antikoagulation von schwer kranken COVID-Patienten ist out. Frühstationär könnte sie aber Nutzen bringen, zeigt jetzt eine große Studie.
Seit klar ist, dass die Lungenentzündung bei COVID-19 auch mit einer systemischen Aktivierung des Gerinnungssystems einhergeht, die ihrerseits Organschäden verursacht, steht die Vollantikoagulation als eine möglicherweise hilfreiche Therapieoption im Raum. Nach anfänglich sehr liberaler Indikationsstellung zeigte dann die Multiplattformstudie REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a, dass schwer kranke Patienten auf Intensivstation davon nicht profitieren, sondern im Gegenteil gefährdet werden.
Mit Verkündigung der Vorabergebnisse dieser Studie Anfang des Jahres hatte der COVID-Exzeptionalismus an dieser Stelle ein Ende: Seither wird die Indikation zur Antikoagulation bei COVID-Patienten auf den Intensivstationen weitgehend nach denselben Kriterien gestellt wie bei Patienten mit anderen schweren Infektionserkrankungen.
Die Ergebnisse des ICU-Arms der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a Studie wurden jetzt mit einiger Verzögerung im New England Journal publiziert. Um relativ 65 Prozent mehr schwere Blutungen (2,3 % vs. 3,8 %) und nur einer statt vier Tage ohne Organersatz bis 21 Tage nach Randomisierung im Vergleich zur Thromboseprophylaxe – das dürfte der erwartete Sargnagel für die pauschale Vollantikoagulation bei schwer kranken COVID-Patienten sein.
Gleichzeitig wurden allerdings die Ergebnisse des zweiten Arms der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a Studie publiziert, für den frühstationäre Patienten rekrutiert wurden, die zum Zeitpunkt der Randomisierung noch keine Organersatztherapie benötigten. Und die sehen etwas besser aus. Zwar haben die vollantikoagulierten Patienten auch hier mehr als doppelt so viele schwere Blutungen, allerdings mit 1,9 % vs. 0,9 % bei Thromboseprophylaxe auf insgesamt niedrigerem Niveau. Dafür blieben 80,2 % der Patienten mit Vollantikoagulation ohne Organersatz, gegenüber 76,4 % bei Thromboseprophylaxe. (der Median betrug in beiden Gruppen 22 Tage.)
Pi mal Daumen müssen also 100 Patienten vollantikoaguliert statt nur prophylaktisch behandelt werden, um bei vier Patienten einen Organersatz – in der Regel eine Dialyse oder eine Beatmung – zu vermeiden. Das wird erkauft mit einer zusätzlichen schweren Blutung bei einem der hundert Patienten.
Ob sich daraus eine pauschale Empfehlung zur Antikoagulation aller nicht schwer kranker COVID-Patienten bei stationärer Aufnahme ableiten lässt, ist zumindest diskussionsfähig. Wahrscheinlich läuft es weiterhin auf eine individuelle Abwägung hinaus, unter Berücksichtigung des Blutungsrisikos. Auch die Studienlage ist nicht völlig eindeutig.
Zum einen gibt es Studien wie die randomisierte RAPID-Studie, die den Nutzen bei einem allerdings kleineren Kollektiv früher COVID-Patienten nicht fand. Zum anderen gibt es ein paar Fragezeichen hinsichtlich ethnischer Effekte in der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a Studie. Dass die COVID-Gerinnungsstörung nicht in allen Ethnien gleich stark ausgeprägt ist, ist bekannt. Der frühstationäre Arm der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a rekrutierte vor allem in Brasilien und den USA; der ICU-Arm dagegen vor allem in Großbritannien. Damit sind die beiden Arme nicht vollumfänglich vergleichbar, was die Übertragung der Daten schwierig macht.
Bildquelle: Joshua Coleman, unsplash