Längst ist die saisonale Influenzawelle 2014/2015 Schnee von gestern. Grund genug für alle Beteiligten, eine Bilanz zu ziehen. Neben wirtschaftlichen Schäden bleibt die Erkenntnis, dass sich Risikopatienten zu selten impfen lassen. Schlägt jetzt die Stunde von Apothekern?
Vom Ende eines Winters: Ökonomen geben bis zu 2,2 Milliarden Euro als gesamtwirtschaftlichen Schaden durch Grippeerkrankungen an. Torsten Schmidt vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) zufolge könne sich sogar das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,3 Prozent verringern. Basis der Simulation waren Erkrankungsraten von bis zu 20 Prozent und fünf Fehltage pro Person.
Allerdings geht nicht jede respiratorische Erkrankung auf Influenza-Viren zurück. Rhino-, Entero-, Corona- und Paramyxoviridae führen zu ähnlichen Symptomen. Um mehr über die Verbreitung echter Grippeviren zu erfahren, hat Adam Kucharski vom Imperial College London Blutproben von 151 Personen auf spezifische Antikörper untersucht. Seine Probanden waren von 1968 bis 2009 sieben neuen Influenza-Stämmen ausgesetzt. Auf Basis mathematischer Modelle fand Kucharski heraus, dass Kinder innerhalb von zehn Lebensjahren mindestens vier Influenza-Infektionen erleiden. Diese Rate verringert sich bis zum 30. Lebensjahr und bleibt mit zwei Neuinfektionen pro Dekade relativ konstant. Als Erklärung vermutet der Wissenschaftler vor allem Infektionen in Kindergärten und Schulen. Jährliche Impfungen könnten zu einem besseren Schutz beitragen.
Die neuesten Daten dazu: Auf Basis molekularbiologisch untersuchter Proben gibt die Europäische Arzneimittelbehörde EMA jetzt aktualisierte Empfehlungen ab. Impfstoffe für die Saison 2015/2016 sollen statt A/Texas/50/2012 (H3N2) künftig A/Switzerland/9715293/2013 (H3N2) enthalten. Bei Influenza B ersetzen Virologen den Stamm B/Massachusetts/2/2012 durch B/Phuket/3073/2013. Der dritte Stamm, nämlich A/California/7/2009 (H1N1), bleibt gleich. Bei tetravalenten Impfstoffen kommt noch B/Brisbane/60/2008 hinzu, wie schon in der letzten Saison. Ausgehend von diesen Informationen werden Hersteller bald mit der Produktion, einem monatelangen Vorgang, beginnen, um rechtzeitig Impfstoffe auf den Markt zu bringen. Das ist aber nur die halbe Miete.
Ärzte und Apotheker raten vor allem Risikopatienten, sich Mitte/Ende 2015 impfen zu lassen. Im Fokus stehen Menschen mit Vorerkrankungen, aber auch Schwangere oder Senioren. Soweit, so bekannt. Genetische Risikofaktoren können auch bei vermeintlich unauffälligen Menschen zu schweren Verlaufsformen führen, berichtet Jean-Laurent Casanova von der Rockefeller University, New York. Zum Fall: Ein zweieinhalb Jahre altes Mädchen war aufgrund von Influenza schwer erkrankt, ohne erkennbare Anhaltspunkte. Defizite des Immunsystems schlossen Pädiater aus. Casanova fand den Grund, nachdem er alle proteincodierenden Sequenzen des Genoms entschlüsselt hatte. Beide Eltern des Mädchens hatten Loss-of-Function-Mutationen im Gen IRF7 (Interferon Regulatory Factor 7) auf jeweils einem der homologen Chromosomen. Damit waren sie phänotypisch unauffällig. IRF7 kurbelt die Bildung von verschiedenen Interferonen an. Genau hier gab es Probleme: Bei der kleinen Patientin fehlte Interferon alpha2. Eine Substitution hätte den schweren Krankheitsverlauf abgemildert, so Jean-Laurent Casanova weiter. Das Mädchen wird jetzt regelmäßig gegen die saisonale Influenza geimpft, wie andere Risikopatienten auch.
So viel zur Theorie. In der Praxis sieht die Sache düster aus: Befragungen zufolge entschieden sich zwischen 54,3 (2010/2011) und 52,6 Prozent (2011/2012) aller Menschen über 60 für die Impfung. Chronisch Erkrankte waren nur zu 46,2 (2010/2011) beziehungsweise 42,9 Prozent (2011/2012) geschützt. Ähnliche Zahlen kommen aus der Schweiz. Deshalb haben sich Eidgenossen zu einem ungewöhnlichen Modellversuch entschlossen. Im Kanton Zürich werden Apotheker die Berechtigung erhalten, ab Herbst 2015 Patienten über 16 Jahren zu impfen – unter anderem gegen saisonale Influenza. Damit verbinden Behörden eine gesetzlich verankerte Weiterbildungspflicht. Lorenz Schmid, Präsident des Züricher Apothekerverbands, sagt: „Das ist eine sinnvolle Lösung, ein niederschwelliges Angebot, das auch die Impfrate in der Bevölkerung erhöhen dürfte.“ Selbst die Schweizer Ärzteschaft äußerte sich wohlwollend. Dazu Josef Widler, Präsident der AerzteGesellschaft des Kantons Zürich: „Wenn ein Hausarzt deswegen pleite geht, hat er sowieso den falschen Job.“ Nach Zustimmung des Regierungsrats, eher eine Formalie, werden Apotheker zur Tat schreiten – vielleicht auch ein Modell für Deutschland?